Weltweit sind bis zu einer Million Arten vom Aussterben bedroht. Die Bestände von 41 Prozent aller untersuchten Insektenarten sind rückläufig. Neben der Artenzahl nimmt auch die Biomasse bedrohlich ab. Flora und Fauna sind in Deutschland und Niedersachsen genauso wie weltweit gefährdet. Die Insektenbiomasse hat sich in Deutschland in den letzten 30 Jahren um bis zu 75 Prozent verringert. Drei von vier Vogelarten sind inzwischen in der Bundesrepublik gefährdet, der Brutbestand der Bekassine, ein Vogel feuchter Grünlandstandorte oder intakter Moore, ist zwischen 1990 und 2015 in Niedersachsen um etwa 80 Prozent zurückgegangen. Zwei Drittel der Säugetiere und Wildbienenarten, knapp 60 Prozent der Großschmetterlinge und 40 Prozent unserer heimischen Farn- und Blütenpflanzen sind in Niedersachsen gefährdet.
Mit jeder Art verlieren wir einen Teil unseres natürlichen Reichtums. Wir werden ärmer. Der Verlust der Artenvielfalt ist auch deshalb fatal, weil wir damit auch die Basis unseres Wirtschaftens und Überlebens zerstören. Wir verlieren die kostenlosen Dienstleistungen der Vielfalt heimischer Arten als Blütenbestäuber, zur Selbstreinigungskraft der Gewässer oder zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit.
Gleichzeitig mit diesen fatalen Ergebnissen hatte die Niedersächsische Landesregierung im August 2019 ein neues Naturschutzgesetz vorgelegt, das zeigte: Diese Landesregierung hat die Dramatik des Artensterbens nicht begriffen und zeigt keinerlei Bereitschaft die gravierenden Probleme anzugehen.
Auf der LDK im Herbst 2019 in Osnabrück haben wir daher beschlossen, das Volksbegehren Artenvielfalt gemeinsam mit den Umweltverbänden zu starten. Ziel des Volksbegehrens ist es unter anderem, extensiv genutzte Lebensräume wie Hecken und Feldgehölze, Weg- und Feldrainen und artenreiches Grünland zu schützen, den Pestizideinsatz zu reduzieren und den Ökolandbau zu fördern, Nährstoffeinträge in Gewässer durch Gewässerrandstreifen zu verringern, den Landeswald naturnäher zu bewirtschaften, die Bodenversiegelung zu reduzieren und die Lichtverschmutzung einzudämmen.
Auf Landesebene und regional haben sich breite Bündnisse aus Verbänden, Parteien und Imkern zur Unterstützung des Volksbegehrens gebildet, über 200 Partner unterstützen das Volksbegehren. Die enge Zusammenarbeit auf Landesebene und vor Ort ist eine gute Voraussetzung auch für zukünftige gemeinsame Projekte als Bündnis- und Bewegungspartei.
Aufgrund der Corona-Pandemie konnten wir das Volksbegehren erst Ende April anmelden, Unterschriften haben wir ab Juni gesammelt. Schon zum ersten August hatten über 45.000 Menschen das Volksbegehren unterschrieben, Anfang September waren es über 70.000. Mittlerweile können wir von über 100.000 Unterschriften ausgehen – obwohl für die erste Phase nur 25.000 Unterschriften nötig gewesen wären. Unser großer Dank gilt allen Menschen, die mit vollem Einsatz Unterschriften gesammelt haben, und allen, die unterschrieben haben.
Dieser Zuspruch hat einen enormen Druck aufgebaut und die Landesregierung ins Laufen gebracht. Seit Ende Mai verhandelt sie unter Hochdruck mit Landvolk, NABU und BUND, vorangetrieben durch das Volksbegehren. Ohne den Druck des Volksbegehrens hätten die Verhandlungspartner nie zueinander gefunden.
Anders als bloße Absichtserklärungen hat das Volksbegehren für gesetzliche Regelungen und Ge- und Verbote zum Artenschutz plädiert. Seit Anfang September liegt der mit den Umweltverbänden NABU und BUND geeinte Gesetzentwurf vor und wurde im Landtag in mehreren Anhörungen ausführlich beraten.
Auch wenn er in einigen Punkten hinter das Volksbegehren zurückfällt, ist er ein erheblicher Fortschritt für den Naturschutz in Niedersachsen. Artenreiches Grünland zählt jetzt zu den gesetzlich geschützten Biotopen, der Ökolandbau soll bis 2030 verdreifacht werden, der Bodenverbrauch bis 2030 halbiert und bis 2050 auf Null reduziert werden, der überwiegende Teil der Gewässer in Niedersachsen erhält einen Randstreifen ohne Düngung und Pestizideinsatz, Totalherbizide wie Glyphosat werden in Schutzgebieten komplett verboten, der Totholz- und Laubholzanteil im Landeswald erhöht Auch die Überwachung der neuen Regeln wird durch den Wegfall des Betretensverbots für kommunale Behörden ohne vorherige Anmeldung sowie durch ein Kataster der Gewässer und ökologischen Ausgleichsflächen gestärkt.
Anders als über ein Volksbegehren erreichbar, gibt es auch geeinte Eckpunkte zu untergesetzlichen Regelungen wie Verordnungen und Förderprogramme. Die Eckpunkte für ein umfassendes Insektenschutzprogramm und ein Wiesenvogelschutzprogramm liegen vor.
Insgesamt sind damit wesentliche Teile des Volksbegehrens durch die Landesregierung übernommen worden. Auch finanziell sind in den Gesetzen ein verbindlicher Erschwernisausgleich, insgesamt 120 Mio für Artenschutzprogramme und knapp 5 Mio Euro jährlich im Kommunalen Finanzausgleich für die Stärkung der Unteren Naturschutzbehörden dauerhaft festgeschrieben.
Wir GRÜNE in Niedersachsen halten wie auch und die Umweltverbände NABU und BUND damit die Ziele des Volksbegehrens für weitgehend erreicht. Eine weitere Fortsetzung des Volksbegehrens ist dann nicht mehr erforderlich, wenn die gesetzlichen Regelungen wie geplant im Novemberplenum verabschiedet werden. Trotz mancher Defizite im Detail wie z.B. bei der Begrenzung des Pestizideinsatzes und dem unzureichenden Schutz von Hecken und Feldgehölzen entwickelt der durch das Volksbegehren erzwungene Niedersächsische Weg zu großen Teilen gleichwertige Verbesserungen für den Natur- und Artenschutz.
Hinzu kommt: Durch die Selbstverpflichtung der Landesregierung und der landwirtschaftlichen Interessensverbände, diese Maßnahmen auch tatsächlich umzusetzen, bietet das Maßnahmenpaket eine echte Chance für mehr Artenvielfalt in Niedersachsen. Auch das ist ein Riesenerfolg des Volksbegehrens!Klar ist aber auch: Die Erfolge durch das Volksbegehren haben zwar die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt und Verbesserungen erzielt, aber reichen allein bei weitem nicht aus, das gravierende Artensterben zu stoppen.
Vor allem die im EU-Ministerrat beschlossene Agrarförderung für die kommenden sieben Jahre sind für den Natur- und Klimaschutz eine herbe Enttäuschung. Statt die Brüsseler Agrarmilliarden konsequent für die gesellschaftlich gewollte Leistungen unserer Landwirt*innen einzusetzen, werden die Gelder weiterhin nach Fläche verteilt. Die großen Profiteure der Förderung sind und bleiben Großbetriebe und Flächeneigentümer*innen, denen die nach dem Gießkannenprinzip für die bloße Flächenbewirtschaftung ausgeschütteten Subventionen weiterhin hohe Einnahmen weitestgehend ohne gesellschaftliche Gegenleistung garantieren.
Aber auch auf Landesebene muss an vielen Punkten muss nachgesteuert werden, die vereinbarten Regelungen müssen umgesetzt und kontrolliert, die Finanzierung dauerhaft gesichert werden. Bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie klafft eine Riesenlücke, nur 2% der Niedersächsischen Gewässer erreichen einen guten Zustand – bis 2027 müssen 100% erreicht werden. Insbesondere die fatalen Beschlüsse der EU zur künftigen Agrarpolitik gefährden die natürlichen Lebensgrundlagen und die Artenvielfalt. Die EU reißt damit das ein, was sie mit ihren Strategien zum Green Deal, zur Biodiversität und zu Farm to Fork gerade aufgebaut hat.
Wir Grüne in Niedersachsen treten daher weiter für verbesserte Gesetze, Kontrollen und Förderung für die Natur ein.
Deshalb fordern wir von der Landesregierung:
- über das jetzt erreichte hinaus eine deutliche Aufstockung der Finanzmittel für eine effektive Kontrolle und die Umsetzung der FFH-Richtlinie, der Wasserrahmenrichtlinie und der Nitratrichtlinie der Europäischen Union,
- die Weiterentwicklung gesetzlicher und untergesetzlicher Regelungen zur Sicherung und Entwicklung der Artenvielfalt sowohl im agrarischen und forstlichen Bereich als auch darüber hinaus z.B. durch konsequentes Untersagen von Schottergärten,
- ein nachdrückliches Eintreten für ein Umsteuern in der Agrarpolitik: Umweltminister Lies und Agrarministerin Otte-Kinast sind gefordert, bei der nationalen Umsetzung der Agrarpolitik für ein Maximum an Umschichtung von pauschalen Flächenprämien hin zur Honorierung von Naturschutzleistungen von Landwirten einzutreten, im Land müssen sie die Möglichkeiten zur Umschichtung der Agrarmittel zu Gunsten von Natur- und Klimaschutz konsequent nutzen.
Der Erhalt der Biodiversität und der Artenvielfalt bleibt auch in Niedersachsen zukünftig Daueraufgabe. Bündnis90/Die Grünen werden sich weiterhin gemeinsam mit Umwelt- und progressiven Agrarverbänden nachdrücklich für die Artenvielfalt und den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen. Neben der Klimakrise, bleibt das Artensterben eine der größten Herausforderungen unseres Planeten.
Dazu brauchen wir eine konsequente Naturschutzpolitik, die es Landwirt*innen ermöglicht, im Einklang mit Artenvielfalt und Umwelt zu wirtschaften, die unser Grund- und Oberflächenwasser effektiv schützt, unsere Wälder naturnah umbaut und für einen besseren Schutz von Landschaftselementen wie Hecken und Wegeränder und gegen die Komplettzerstörung von Böden durch ungezügelte Überbauung eintritt.