Artenvielfalt sichern – Insektensterben stoppen

Landesdelegiertenkonferenz (LDK) von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen vom 30.11./1.12.2019 in Osnabrück

Das Artensterben nimmt zu. So sind nicht nur bis zu 1 Million Arten vom Aussterben bedroht, sondern auch die Bestände von rund 40 Prozent aller weltweit untersuchten Insektenarten sind rückläufig. Neben der Artenzahl nimmt auch die Biomasse ab, so dass die Gesamtmenge aller Insekten schrumpft und weltweit ein jährlicher Rückgang von 2,5 Prozent festzustellen ist. Wir haben es hier mit einem Massensterben erdgeschichtlichen Ausmaßes zu tun, das sich in erschreckend kurzer Zeit abspielt.

Das Artensterben findet nicht nur im Amazonas Südamerikas oder in den Ölpalmengebieten Indonesiens statt. Genauso betroffen sind Flora und Fauna in Deutschland.

Es summt und brummt immer weniger in Deutschland – und deswegen bleibt auch das Zwitschern aus. Der Verlust an Biodiversität hat fatale Folgen, greift massiv in Nahrungs-ketten ein, lässt unsere Umwelt veröden und hat direkte Folgen für den Menschen. Jede einzelne Art hat eine Funktion im Ökosystem und einen Wert an sich. Die Biomasse von Insekten ist in Deutschland in den letzten 30 Jahren um bis zu 75 Prozent zurückgegangen. Das gut dokumentierte Insektensterben muss alarmieren, da diese mit Abstand größte Artengruppe substanzielle Funktionen in Landökosystemen, Flüssen und Seen übernimmt. Insekten bestäuben beispielsweise eine Vielzahl unserer Kulturpflanzen. Honigbienen, Wildbienen und Schmetterlinge, erbringen weltweit eine jährliche Leistung im Wert von bis zu 500 Milliarden Euro. Zugleich sind Insekten die Nahrungsgrundlage vieler Vögel, Amphibien und Fledermäuse. Wo sie fehlen, werden ganze Nahrungsketten zerstört. Bodeninsekten sind wichtig für die Humusbildung und halten den Boden fruchtbar.

Drei von vier Vogelarten sind inzwischen in Deutschland gefährdet – wie z.B. Kiebitz oder Feldlerche. Der Brutbestand der Bekassine, ein Vogel feuchter Grünlandstandorte oder intakter Moore, ist allein von 1990 bis 2015 in Niedersachsen um etwa 80 Prozent zurück-gegangen. Rund zwei Drittel der Säugetiere und Wildbienenarten, knapp 60 Prozent der Großschmetterlinge und 40 Prozent unserer heimischen Farn- und Blütenpflanzen sind in ihrem Bestand in Niedersachsen gefährdet. Durch die Zerstörung der im Laufe von Jahr-millionen entstandenen Vielfalt berauben wir uns und zukünftige Generationen der geneti-schen Reserve und damit wichtiger Entwicklungsmöglichkeiten wie neuer Nahrungsmittel und Fortschritt in Technik, Chemie oder Medizin.

Mit jeder Art verlieren wir einen Teil unseres natürlichen Reichtums. Wir verlieren ein Stück Anmut auf diesem Planeten. Wir werden ärmer. Es ist unsere Aufgabe, unseren Kindern und Kindeskindern eine Welt zu hinterlassen, in der sie den ganzen natürlichen Reichtum an Pflanzen und Tieren, an Schmetterlingen, Libellen und Wildbienen, an Fröschen, Fischen und Vögeln erleben können – die Anmut eines Falters, das sonore Brummen einer Hornisse, das Zwitschern der Lerchen im Frühling, den tropischen Regenwald in Brasilien genauso wie alte Buchenwälder in Niedersachsen.

Der Verlust jeder einzelnen Art stellt uns vor ein grundlegendes ethisches Problem. Denn wir Menschen besitzen nicht das Recht andere Arten, wie bspw. die Uferschnepfe oder die Hausmaus mit unserer Lebensweise in ihrer Existenz zu gefährden, unabhängig davon, ob sie uns dienlich erscheinen oder wir sie ästhetisch ansprechend finden. Es liegt in unserer Verantwortung, das Existenzrecht jedes Lebewesens zu achten und für das Fortbestehen seiner Art Sorge zu tragen.

Rund 58 Prozent der Fläche Niedersachsens wird landwirtschaftlich genutzt, deshalb kommt der Landwirtschaft eine besondere Verantwortung für die Bewahrung der natürlichen Vielfalt zu. Eine verfehlte Agrarpolitik, die eine natur- und umweltfeindliche industrielle Produktion fördert, hat dazu geführt, dass die landwirtschaftliche Nutzung wesentlich zum Artenschwund beiträgt. Ausgeräumte und monotone Agrarlandschaften, Grünlandumbruch sowie Pestizideinsatz und Überdüngung zerstören Lebensräume für Insekten und Vögel und die Biodiversität insgesamt. Rückzugsräume der Artenvielfalt – etwa strukturgebende Elemente wie Hecken oder Feld- und Wegraine verschwinden. Pestizide vernichten weiträumig Wildkräuter und Insekten, rauben Bestäubern wie auch insektenfressenden Vögeln die Nahrungsgrundlage und stören oder zerstören ganze Nahrungsnetze. Das fast völlige Verschwinden einer flächenangepassten und insbesondere extensiven Weidehaltung überlässt nicht nur die Formung der Landschaft gänzlich den monotonisierenden Maschinen, sondern führt auch zum Verschwinden des Dungs, der eine wichtige Ressource ist für Insekten und Bodenleben.

Das alles sind Schlaglichter auf eine seit Jahrzehnten verfehlte EU-Agrarpolitik, die nicht nur unseren heimischen Arten, sondern auch den Landwirt*innen massiv geschadet hat: In den letzten 50 Jahren ist die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland um rund 80 Prozent zurück gegangen und das durchschnittliche Einkommen der Vollerwerbsbetriebe liegt unter dem Einkommensdurchschnitt der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer*innen in Deutschland. Hinzu kommt eine oftmals schwierige persönliche Situation der Landwirt*innen. Sie sehen sich zu Unrecht als Umweltvergifter*innen an den Pranger gestellt, da sie doch genau das getan haben, was die Agrarpolitik von ihnen verlangt hat: Effizient und in immer größeren Einheiten immer billigere Nahrungsmittel produzieren. Diese politische Fehlentwicklung muss endlich und verlässlich beendet werden: Agrarpolitik muss die Rahmenbedingungen so setzen, dass Landwirt*innen ein angemessenes Einkommen erzielen, wenn sie nachhaltig und naturverträglich wirtschaften. Das ist bislang nicht der Fall: Um die 60 Milliarden Euro Steuergeld fließen in der EU jährlich in Agrarsubventionen. Das sind überwiegend so genannte Direktzahlungen, die in erster Linie den Eigentümer*innen landwirtschaftlicher Nutzflächen zu Gute kommen, auch wenn sie selbst keine Landwirtschaft mehr betreiben. Es ist absurd, dass mit über 900 Millionen Euro jährlich in Niedersachsen eine Weise der Landwirtschaft subventioniert wird, die maßgeblich zum Rückgang der Artenvielfalt beiträgt.

25 Prozent der Fläche Niedersachsens sind bewaldet, nur rund 5 Prozent davon können sich naturnah entwickeln. Für den natürlichen Reichtum von Tier- und Pflanzenarten im Wald ist eine naturnahe Baumartenzusammensetzung aus heimischen Arten und ein Mosaik unterschiedlicher Wuchsstadien Voraussetzung. Statt Altersklassenwälder brauchen wir naturnahe, ungleichaltrige Dauerwälder. Alt- und Totholz sind in vielen Wäldern Mangelware, Fichtenmonokulturen bieten heimischen Arten wenig Lebensraum. Die Fördermaßnahmen des Landes sehen seit 2018 wieder verstärkt die Förderung von Nadelholz einschließlich nicht heimischer Arten wie der Douglasie vor. Für die Insektenvielfalt ist das fatal: A
So leben an Eichen bis zu 400 Schmetterlingsarten und über 1000 verschiedene Käferarten, viele davon sind auf die Eiche als Lebensraum angewiesen. An Baumarten wie der amerikanischen Douglasie hingegen sind nur wenige Insektenarten angepasst.

Die andauernde Versiegelung von Lebensräumen durch die Zunahme von Siedlungs- und Verkehrsflächen ist ein großes Problem für die Artenvielfalt. Täglich werden in Nieder-sachsen knapp 10 Hektar neu versiegelt. Diese Flächen werden für die Tier und Pflanzenwelt wertlos. Straßen führen zu Zerschneidungseffekten: Tiere können nicht mehr wandern, Populationen werden getrennt. Die Versiegelungsrate muss drastisch reduziert werden.

Auch die Klimakrise, giftige Schadstoffe in der Umwelt und Lichtverschmutzung gefährden die Artenvielfalt. Verschmutzungen der Umwelt mit Mikroplastik und hormonartig wirkenden Stoffen können die Fortpflanzung von Fischen und Krebsen beeinträchtigen.
Die Klimaerhitzung verschärft die Probleme: Bei anhaltender Trockenheit im Sommerhalbjahr sind unsere heimischen Waldbäume gefährdet und weniger mobile Arten werden es bei dem rasanten Verlauf der Klimakrise nicht schaffen, in kühlere Bereiche auszuweichen. Schätzungsweise beträgt das klimabedingte weltweite Aussterberisiko von Arten bei 2°C Erwärmung 5 Prozent, bei 4,3°C Erwärmung steigt es auf 16 Prozent.

 

Wir müssen handeln – jetzt!

Bund und Land handeln nicht. Sie handeln nicht beim Klimaschutz und nicht bei den übrigen wesentlichen Ursachen des Artensterbens. Die Bundesregierung hält starr an der völlig verfehlten Agrarsubventionspolitik fest und nutzt noch nicht einmal die vorhandenen Handlungsspielräume für Umschichtungen zugunsten einer nachhaltigeren, ökologischeren Landwirtschaft. Die Landesregierung hat die Ausweisung von Natura-2000-Gebieten, den Highlights des Naturschutzes, noch immer nicht abgeschlossen und dort wo die Verord-nungen erstellt wurden, reichen die Schutzbestimmungen oftmals nicht, um die Situation bedrohter Arten und Lebensräume zu verbessern oder auch nur zu erhalten. Das Biotopverbundsystem steht nur auf dem Papier, tatsächlich umgesetzt ist wenig. Nieder-sachsen hat mit 5 Prozent einen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegenden Anteil an ökologischer Landwirtschaft.

Der jetzt von der Landesregierung vorgelegte Änderungsentwurf des Naturschutzgesetzes ist völlig unzureichend. Ein Naturschutzgesetz, das den Artenreichtum Niedersachsens erhält und fördert, muss mindestens

  • insbesondere artenreiche Offenlandlebensräume wie großflächige Extensivweiden, Trockenrasen, Feuchtwiesen und Röhrichte schützen sowie biotopverbindende Lebensräume, wie Alleen, Feldgehölze, Säume, Wegraine, Hecken und Gewässerrandstreifen als Lebensräume und Teile des Biotopverbundes sichern,
  • Wildnisgebiete vorsehen,
  • Grünland schützen sowie Wiesenvogelbrutgebiete erhalten und entwickeln,
  • den Moorschutz verbessern und ungenutzte Moore wieder vernässen,
  • die Neuversiegelung reduzieren und eine naturnahe Pflege innerörtlicher
    Grünflächen festlegen,
  • Beleuchtungen in der freien Landschaft begrenzen und insektenfreundlichere Leuchtmittel vorgeben,
  • den Pestizideinsatz in der Landschaft deutlich einschränken, in Schutzgebieten untersagen sowie angemessene Pufferstreifen festlegen.

Ergänzend müssen das Niedersächsische Wassergesetz und das Waldgesetz angepasst
werden: Im Landeswald müssen die Schutzfunktionen, insbesondere für die Arten und Biotopvielfalt und den Klimaschutz, grundsätzlich Vorrang haben vor der Nutzfunktion.

Es ist nicht erkennbar, dass die Landesregierung ernsthaft tätig werden wird. Um die Ziele zu erreichen, planen wir deshalb gemeinsam mit dem NABU und weiteren Verbänden ein Volksbegehren Artenvielfalt Niedersachsen.

Das alleine reicht allerdings nicht aus. Es braucht auf Bundes- und Landesebene wirksame ordnungsrechtliche Maßnahmen, um die Düngung auf das von den Pflanzen genutzte Maß zu begrenzen. Bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln sind die Folgen des Einsatzes dieser Mittel auf Arten, insbesondere auch auf Boden- und Gewässerflora und -fauna, Lebensräume und ihre Wechselwirkungen weitaus stärker als bisher zu prüfen. Die Forschung zur Fernverdriftung von Ackergiften und deren Folgen ist zu intensivieren. Die Anwendung von Pestiziden muss darüber hinaus deutlich restriktiver erfolgen. Das gilt auch für die Anwendung von Antiparasitika bei Huftieren, durch die die Dungfauna erheblich beeinträchtigt wird – eine der am stärksten zurückgegangenen Insektengruppen. Der Einsatz solcher Mittel darf nurmehr bedarfsorientiert erfolgen und muss mit Einstallung verbunden sein.
Es braucht eine völlig neu ausgerichtete Agrarförderung auf europäischer Ebene. Ziel muss die Förderung gesellschaftlicher Leistungen werden, statt Geldverteilung nach dem Gießkannenprinzip. Agrarfördergelder sollen nur noch die Betriebe erhalten, die über gesetzliche Vorgaben hinausgehend Leistungen für den Umwelt-, Natur-, Klima- und Tierschutz erbringen, darunter Pflegemaßnahmen zum Erhalt und zur Wiederansiedlung seltener Arten. Anders als bisher sollen die Förderungen nicht nur eine Entschädigung für Ertragsminderungen sein, sondern als ökonomisch attraktive Anreize ausgestaltet werden. Zur Sicherung der Artenvielfalt und der Biodiversität sind dabei unter anderem insbesondere zu fördern:

  • die Entwicklung und Erweiterung von naturnahen Strukturelementen in der Landschaft, von Wiesenvogellebensräume, Feucht- und Nasswiesen sowie Trockenrasen und sonstige seltene Lebensräume wie z.B. historisch altes Grünland,
  • vielfältige Fruchtfolgen und humusaufbauende Wirtschaftsweisen zum Schutz des Bodenlebens,
  • die flächengebundene Tierhaltung, die Weidehaltung und insbesondere die extensive Weidehaltung,
  • unterdurchschnittliche Schlaggrößen, weil damit in der Regel ein höherer Anteil an Saumstrukturen verbunden ist,insektenfreundliches Management von Mahdflächen mit Förderung von Säumen und Brachestreifen unter Berücksichtigung von Mahdhäufigkeit, Zeitraum und Flächengröße der Mahd zum Erhalt ganzjährig vorhandener vertikaler Strukturen für die Fortpflanzung diverser Insektenarten sowie zum Erhalt vielfältiger Blühaspekte als Nahrungshabitat.

Einer besonderen Förderung bedarf der humusfördernde und ökologische Landbau, welcher
auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel verzichtet und damit zusätzlich einen wertvollen Beitrag für die Artenvielfalt leistet. Neben der Direktförderung der ökologischen Betriebe in der Landwirtschaft und der Lebensmittelwirtschaft muss das Land vor allem die Vermarktungsförderung intensivieren.

Wir fordern Land und Bund auf, sich entsprechend nachdrücklich für eine solche Umstrukturierung der Agrarförderung einzusetzen. Im Rahmen der EU-rechtlichen Vorgaben sind Umschichtungsmöglichkeiten hin zur Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft vollständig zu nutzen. Bund und Land sind gefordert, eigene Förderprogramme ergänzend aufzustellen, um diese Ziele erreichen zu können.

Nur wenn Bund und Land gemeinsam das Ziel verfolgen, die Artenvielfalt zu erhalten und wiederherzustellen und auch bereit sind, die nötigen Konsequenzen zu ziehen und naturgerechtes Handeln zu fördern, kann es gemeinsam mit der Land-und Forstwirtschaft gelingen, unseren natürlichen Reichtum für eine lebenswerte Zukunft zu erhalten.

Landesdelegiertenkonferenz (LDK) von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen vom 30.11.2019 / 1.12.2019 in Osnabrück