Kaum wissen wir, dass alle niedersächsischen Landkreise im Fokus der Suche für ein atomares Endlager in Deutschland sind, verkündet die niederländische Regierungspartei Partei vor de Vrijheid en Democratie (Volkspartei für Freiheit und Demokratie, VVD) Pläne für den Bau neuer Atomkraftwerke. Unter den möglichen Standorten wird auch das an Niedersachsen angrenzende Eemshaven genannt. Begründet wird dies mit dem Argument, die Atomkraft sei die günstigste Art, um sauberen Strom zu produzieren. Belegen soll dies eine Studie des atomfreundlichen Beratungsunternehmen ENCO aus Wien.
Die Pläne der niederländischen Regierung sind ökologisch unverantwortlich und gehen ökonomisch von völlig falschen Voraussetzungen aus: „Tschernobyl“ und „Fukushima“, diese Namen sind die bekanntesten Synonyme der Folgen einer nach wie vor nicht beherrschbaren Technologie und einer lebensverachtenden Industrie, die mit Großunfällen in der Lage ist, das Leben und die Gesundheit von Millionen Menschen überall auf der Welt zu bedrohen. Bisher ist es weltweit nicht gelungen, ein nach heutigen Maßstäben sicher erscheinendes Endlager für den mehrere hunderttausend Jahre strahlenden Atommüll zu bauen: Allein in Europa sind bisher rund 2,5 Mio. m³ strahlender Atommüll angefallen, der in Zwischenlägern vielfach mehr schlecht als recht angesammelt wird – über die gesamte Lebensdauer der bestehenden Kraftwerke wird der Atommüllberg allein in Europa auf 6,6 Mio. m³ angewachsen sein. Da ist es völlig unverantwortlich, weitere Atommeiler zu bauen mit ihrem nach unserem Ermessen ewig strahlenden Atommüll.
Mit Treibhausgas-Einsparungen von rund 15% gegenüber 1990 ist die klimapolitische Bilanz der Niederlande in den letzten 30 Jahren mehr als bescheiden. Dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte geht es offenbar in erster Linie darum, mit einer Debatte um neue Atomkraftwerke von eigenem klimapolitischen Versagen abzulenken und den Status Quo einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Energiepolitik noch einige Jahre über die Zeit zu retten. Dabei ist völlig klar: Ohne einen zügigen massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien werden die Niederlande wie auch Deutschland nicht nur ihre Klimaziele verfehlen, sondern auch Chancen für Arbeit und Wertschöpfung ihrer modernen Volkswirtschaften verpassen. Denn wegen unkalkulierbarer Risiken und hoher Kosten entwickelt sich die Atomenergie glücklicherweise weltweit zu einem energiepolitischen Auslaufmodell.
Die Annahme der Wirtschaftlichkeit des Atomstroms durch das Beratungsunternehmen ENCO widerspricht allen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen: So gehen das deutsche Umweltbundesamt und das Fraunhofer Institut aktuell davon aus, dass für Atomstrom aus neuen Anlagen inklusive aller Folgekosten ein Gestehungspreis von 34 Cent je kWh zu veranschlagen ist. Moderne Windkraftanlagen, für deren Bau auch die Niederlande prädestiniert sind, kommen aktuell mit Gestehungskosten von unter 9 Cent je kWh aus.
Bei ENCO werden jedoch die wahren Kosten der Atomenergie mit verfälschten Annahmen kleingerechnet. Die langfristigen Kosten für den Rückbau der verstrahlten Anlagen und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle werden nicht berücksichtigt. Das Beratungsunternehmen der niederländischen Regierung ignoriert außerdem, wie der niederländische Strommarkt funktioniert und geht ohne weitere Begründungen davon aus, dass Atomkraftwerke im Jahr 2040 in 95 Prozent der Fälle mit voller Leistung betrieben werden können. Tatsächlich ist es so, dass neue Atomkraftwerke nur mit massiver, staatlicher Förderung gebaut werden. Im Gegensatz dazu sinken die Kosten für Windkraft und Solarenergie immer weiter, so dass hier die öffentliche Förderung schrittweise zurückgefahren wird.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat bereits 2002 den bahnbrechenden Beschluss gefasst, aus der Atomenergie auszusteigen. Nachdem die schwarz-gelbe Nachfolgeregierung diesen Beschluss zwischenzeitlich rückgängig gemacht hatte, ist der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland seit 2011 endgültig besiegelt. Im Dezember 2019 waren in Deutschland nur noch sechs AKW am Netz, im Jahr 2022 wird der Ausstieg vollzogen sein. Das Kernkraftwerk in Lingen/Emsland wird als letztes AKW in Deutschland abgeschaltet.
Entscheidend dafür war eine Neubewertung der Risiken: Die nukleare Katastrophe im japanischen Fukushima machte deutlich, dass das unvermeidbare Restrisiken katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt bedeutet. Die Risiken beim Betrieb eines AKWˋs machen an Ländergrenzen nicht halt.
Mit der Stilllegung des Atomkraftwerks in Lingen/Emsland wird es in Zukunft weniger Katastrophenrisiken und weniger Risiken für die Anwohner*innen in der Umgebung geben. In den letzten Jahren wurden die Bewohner*innen der Niederlande präventiv auf eine Katastrophe vorbereitet. Bei einem nuklearen Unfall können radioaktive Stoffe freigesetzt werden, die sich über die Luft verbreiten. Eine davon ist radioaktives Jod. Längerfristig kann dies bei jungen Menschen Schilddrüsenkrebs verursachen. Vor allem an Schwangere, Säuglinge und Kinder und Menschen unter 40 Jahren wurden in einer Kampagne 2017 Jodtabletten verteilt, die im Falle einer nuklearen Katastrophe eingenommen werden sollen. Dies kann jedoch bei weitem nicht alle gesundheitlichen Auswirkungen beseitigen und stellt nach wie vor ein großes Risiko dar. Gerade in der Zeit der Corona-Krise ist deutlich geworden, wie wichtig Gesundheit ist! Eine Atomkraftwerksoption setzt damit sowohl die niederländische als auch die deutsche Bevölkerung in Zukunft allen erhöhten Risiken aus. Und dies, obwohl in Deutschland die Risiken ausschlaggebend für die Entscheidung zur Abschaltung der Kernkraftwerke waren. Es besteht die Notwendigkeit, sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden schnell auf grüne Energie umzusteigen.
Bündnis 90/Die Grünen in Niedersachsen und GroenLinks fordern die niederländische Regierung auf, ihre Pläne für den Bau neuer Atomkraftwerke aufzugeben. Der 45 Jahre alte Atommeiler Borsele ist schnellstmöglich still zu legen.
Bündnis 90/Die Grünen und GroenLinks rufen die niederländische Regierung dazu auf, umgehend ein nachhaltiges Konzept für eine klimaneutrale Energiewende in den Niederlanden zu erarbeiten, das auf Erneuerbare Energien und eine dezentrale Energieversorgung setzt.
Gemeinsam fordern wir die niedersächsische Landesregierung und die deutsche Bundesregierung auf, alles zu unternehmen, damit die niederländische Regierung ihren atomfreundlichen Kurs revidiert. Ziel ist ein gemeinsames Signal für eine zukunftsfähige Energieversorgung in Europa und die Umsetzung der Pariser Klimaziele.
Bündnis 90/Die Grünen und GroenLinks sind sich darin einig, dass eine gemeinsame europäische Energiepolitik überfällig und notwendig ist, die auf eine nachhaltige und klimafreundliche Energieversorgung ohne Atomenergie und fossile Energieträger setzt.