Für Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen ist klar: Das sog. Dublin-III-Abkommen, wonach grundsätzlich derjenige EU-Mitgliedstaat bzw. eines der vier assoziierten Mitglieder Island, Liechtenstein, Norwegen oder die Schweiz für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, in dem der/die Asylsuchende zuerst registriert wurde, ist gescheitert. Ein Land alleine – sei es Italien, Spanien, Griechenland oder Malta, kann das nicht stemmen.
Deshalb unterstützen Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen einen europäischen Verteilungsmechanismus, der eine gerechte Arbeitsteilung bei der Aufnahme und Asylprüfung zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellt. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist es gleichzeitig erforderlich, die Entscheidungspraxis der nationalen Asylbehörden anzugleichen. Denn ohne eine solche Vereinheitlichung bliebe einer der zentralen Anreize für Sekundärmigration bestehen.
Bei den gegenwärtigen Verhandlungen auf europäischer Ebene zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), u.a. der Dublin-Verordnung, blockieren sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig. Dabei hatte das Europäische Parlament (EP) bereits im Jahr 2017 mit einer 2/3 Mehrheit einen Kompromiss verabschiedet.
Nach den Plänen der EU-Kommission und den bisherigen Verhandlungen im Rat soll das individuelle Asylrecht verstärkt auf Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union verlagert werden. Der Drittstaatenregelung soll demnach Vorrang vor der Durchführung des Dubliner Systems gegeben werden, mit der Folge, dass bei deren Anwendung der Asylantrag des/der Schutzsuchenden nicht inhaltlich geprüft wird. Damit wird der Zugang für Geflüchtete zum Unionsgebiet wirksam lückenlos gesperrt und so dem Streit innerhalb der Mitgliedsstaaten über eine angemessene und gerechte Verteilung die Grundlage entzogen. Verschärft wird diese Situation dadurch, dass gegen die Abschiebung oder Zurückweisung im Rahmen der Drittstaatenregeleung nach dem Vorschlag der EU-Kommission kein Eilrechtsschutz gewährt werden soll. Dies verletzt die Grundrechtscharta der Union wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
Das EP lehnt die zwingende Anwendung von Drittstaatenregelungen bei der Einreise ab. Denn werden diese Pläne umgesetzt, entledigt sich die EU ihrer Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz. Außerdem würden durch die sogenannte Ewigkeitsklausel und die Abschaffung des Selbsteintrittsrechtes bisherige humanitäre Spielräume der Mitgliedsstaaten faktisch ausgeschlossen.
Daneben werden die Schutzrechte von Minderjährigen weiter abgebaut. Den Mitgliedsstaaten soll weiterhin die Inhaftierung und Überstellung von unbegleiteten Minderjährigen sowie die Anwendung von Schnellverfahren ermöglicht werden. Dies wäre eine Verschlechterung zur geltenden Rechtslage.
Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen setzen sich deshalb mit Nachdruck für ein menschenrechtsbasiertes, faires, solidarisches und gesamteuropäisches Verteilungssystem für Asylsuchende ein und für den Schutz des Zugangs zum individuellen Asylrecht in Europa. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems darf nicht zur Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in die ohnehin schon überlasteten Krisen- und Transitstaaten führen. Der Umbau des GEAS zu einem Abbauprogramm von Flüchtlingsrechten treten Bündnis 90/Die Grünen entschieden entgegen. Der Einsatz für Menschenrechte in der Welt kann nur dann glaubwürdig vertreten werden, wenn sich die EU nicht selbst des internationalen Flüchtlingsschutzes entledigt.
Für eine menschenrechtsbasierte und solidarische Asylpolitik der Europäischen Union fordern wir:
1. Die Europäische Union muss Asylsuchenden legale und sichere Zugangsmöglichkeiten zu einem einheitlichen Schutzstandard und faire
Asylverfahren auf hohem Niveau gewähren. Dabei muss sie sich von dem im bisherigen GEAS enthaltenen System von Mindeststandards zu einem System von Höchststandards orientieren. Zudem ist das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt zu befolgen (Art. 33 Abs. 1 GFK). Niemand darf in ein Gebiet ausgewiesen oder zurückgewiesen werden, in dem Gefahr für Leben und Freiheit droht. Auch der Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 der EMRK gilt absolut.
2. Der Zugang zum Asylverfahren mit einer inhaltlichen Prüfung des Asylgesuchs muss garantiert werden. Eine Regelung, die Mitgliedsstaaten zur Anwendung einer Drittstaatenregelung zwingt, ist mit der GFK nicht vereinbar und deshalb abzulehnen. Ebenfalls sind verpflichtende Vorverfahren abzulehnen, weil sie verhindern, dass Schutzsuchende schnell der Prüfung ihres individuellen Asylgesuchs zugeführt werden. Fristenregelungen, die nach Fristablauf einen Zugang zum Asylverfahren im Aufenthaltsstaat garantieren, müssen zudem erhalten bleiben. Rechtsschutzmöglichkeiten und das Selbsteintrittsrecht für Mitgliedsstaaten müssen uneingeschränkt sichergestellt sein. Gleichzeitig ist der Zugang zu einer unabhängigen Rechtsberatung sicherzustellen und Rechtsmittel müssen eine aufschiebende Wirkung haben.
3. Die Verteilung der Asylsuchenden auf alle Mitgliedstaaten erfolgt nach fair ermittelten, objektiven Quoten. Dabei kann der Königsteiner Schlüssel, welcher für die innerdeutsche Verteilung verwendet wird, als Diskussionsgrundlage dienen. Dabei müssen aber auch die berechtigten Interessen der Schutzsuchenden berücksichtigt werden, z.B. die Einheit der Familie, Sprachkenntnisse oder andere Beziehungen zu bestimmten Herkunftsländern (Vorschlag für „faire Quoten“ des EP).
4. Anerkannte Flüchtlinge sollen die Möglichkeit erhalten, unter bestimmten Konditionen (zum Beispiel bei der Aussicht auf einen Arbeitsplatz) im EU-Raum weiterzuwandern, statt die Sekundärmigration vieler anerkannter Flüchtlinge pauschal zu bekämpfen. Besonders „attraktive“ Mitgliedsstaaten müssen hierbei durch einen Mechanismus des finanziellen Ausgleichs unterstützt werden, um möglichen Mehrausgaben für Integration entgegenzuwirken (Vorschlag SVR).
5. Asylsuchende sind unmittelbar nach der Einreise in die EU europaweit einheitlich zu registrieren, damit Klarheit über die Zuzugszahlen besteht, alle Asylsuchenden auch tatsächlich erfasst werden, ihr Verbleib besser nachvollzogen werden kann und sie nach einem festgelegten Referenzschlüssel auf die einzelnen EU-Staaten verteilt werden können.
6. Parallel dazu muss die EU-Asylbehörde (EASO) in ihren Befugnissen so erweitert werden, dass sie gemeinsam mit den Mitgliedstaaten für eine schnelle Registrierung, eine humane Erstunterbringung mit medizinischer Versorgung und die anschließende schnelle und faire Verteilung sorgt. Zudem muss sie in Zusammenarbeit mit dem hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und fachkundigen NGOs verstärkt dazu beitragen, das Wissen nationaler Asylbehörden und Gerichte über die Situation in Herkunftsstaaten zu und EU-weit zu vereinheitlichen.
7. EU-Staaten, die sich anteilig nicht gleichermaßen an der Aufnahme von Asylsuchenden beteiligen, sollen zu finanziellen Ausgleichszahlungen verpflichtet werden können (etwa durch einen Mehrheitsbeschluss im Europäischen Rat oder die Möglichkeit zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission).
8. Das Recht auf Einheit der Familie muss vollumfänglich umgesetzt werden. Ein Vorrang der Prüfung, ob nicht ein außereuropäischer Drittstaat den/die Asylsuchende/n aufnehmen könnte, vor der Frage, ob die Person bereits Familie in einem europäischeren Mitgliedsstaat hat, lehnen wir ab. Damit würde das Recht auf die Familieneinheit unterminiert.
9. Der Schutz von unbegleiteten Minderjährigen und das Kindeswohl sind vorrangig zu berücksichtigen. Besonders schutzwürdige Personen(-gruppen), wie etwa Schwangere und Kranke, müssen so schnell wie möglich einen Schutzstatus erhalten. Wir lehnen „beschleunigte Verfahren“ zu Lasten von Asylsuchenden bei Verkürzung des Rechtsschutzes, etwa mit der Argumentation von „offensichtlich unbegründeten Fällen“, klar ab.
10. Es soll analog zum Vorschlag des EU-Parlaments für Asylsuchende die Möglichkeit geben, im Rahmen des Verteilungssystems als Gruppe zusammen auf einen EU-Staat verteilt zu werden, um etwa quasi familiäre Bindungen berücksichtigen zu können und so Sekundärmigration zu reduzieren.
11. Wir lehnen Haft- und Massenlager entschieden ab. Die Erfahrungen mit solchen Lagern an den EU-Außengrenzen zeigen, dass diese Art der Unterbringung menschenunwürdig und traumatisierend ist und die Grundrechte massiv einschränkt. Ebenso lehnen wir eine Asylhaft/Abschiebehaft klar ab.
12. Eine „humanitäre Koalition“ bestehend aus Frankreich, Deutschland und anderen migrationspolitisch vergleichsweise progressiven EU-Staaten muss mit der Einrichtung eines vorübergehenden Verteilungssystems aktiv vorangehen, bis ein entsprechendes Abkommen über die Verteilung von Asylsuchenden europaweit in Kraft tritt.