Im Dezember 2016 haben wir auf der LDK in Oldenburg den Beschluss zu unserem Antrag „Nein heißt Nein“ gefasst. In diesem haben wir sowohl Forderungen zur Stärkung von Opferrechten formuliert als auch weitere gesellschaftliche Maßnahmen zum Schutz gefordert. Es ist an der Zeit, die Umsetzung zu überprüfen: Wie werden bestehende Gesetze und länderspezifische Regelungen angewendet, wo sind sie ausreichend und wo nicht?
Zum 1. Januar 2017 trat das 3. Opferrechtsreformgesetz in Kraft, dass zum Ziel hat, die Opferrechte im Strafverfahren zu stärken. Das Gesetz sieht u.a. vor, dass gemäß § 406g StPO es erstmals einen Rechtsanspruch auf Psychosoziale Prozessbegleitung für Verletzte von schweren Gewaltstraftaten – zu denen auch Sexualstraftaten gehören, gibt. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche und Erwachsene mit besonderer Schutzbedürftigkeit. Die Schutzbedürftigkeit wird im Strafverfahren durch die Richter*in geprüft.
Die Ausführungsgesetzte und damit die Ausgestaltung dieses Gesetzes sind Ländersache.
Mit ihrer Regierungsübernahme in Niedersachsen hat rot-grün Qualitätsstandards für die Psychosoziale Prozessbegleitung formuliert sowie dieses Angebot flächendeckend auf- und ausgebaut. Somit ist Niedersachsen im Bundesvergleich relativ gut aufgestellt.
Ein Gesetz und seine Regelungen sind nur so gut, wie diese auch angewendet werden. Die Bilanz nach zwei Jahren ist ernüchternd und verlangt unseren weiteren Einsatz für die Stärkung von Betroffenen sexualisierter Gewalt!
Trotz viel Engagement von Berater*innen diese Opferschutzmaßnahme der Psychosozialen Prozessbegleitung in der Justiz bekannt zu machen, gibt es bisher noch nicht viele Beiordnungen und erfolgen in etlichen Fällen auch nicht zeitnah. Das führt dazu, dass Anträge auf Beiordnungen teilweise monatelang in den Akten liegen und erst in der Hauptverhandlung eine Beiordnung erfolgt. Die Beiordnungen müssen richterlich erfolgen.
Wir fordern, dass BÜNDNIS 90 / Die Grünen in Niedersachsen dafür sorgen:
• dass jede*r Betroffene die vorhandenen Unterstützungsangebote kennt.
Das bedeutet:
- Jede polizeiliche Dienststelle muss Betroffene auf die Möglichkeit der Psychosozialen Prozessbegleitung hinweisen.
- Darüber hinaus sollten Staatsanwaltschaften verpflichtet werden, Betroffene schriftlich auf die Möglichkeit einer Nebenklage und die Psychosozialen Prozessbegleitung hinzuweisen
- Dass der zeitliche Rahmen zwischen einer Anzeige und der Eröffnung des Verfahrens beschleunigt wird.
- Den kostenfreien Rechtsanspruch für von sexueller Gewalt Betroffene, eine Rechtsberatung vor Erstattung einer Strafanzeige.
- Dass Fachberater*innen mit einer Schweigepflicht und einem Zeugnisverweigerungsrecht ausgestattet werden, da dies für die Entwicklung des Vertrauensverhältnisses für das Opfer relevant ist.
- Kann eine Frau / ein Mädchen oder auch ein betroffener Junge / Mann sich (noch) nicht entschließen, Anzeige zu erstatten, müssen sie auf die Möglichkeit der Beweissicherung ohne Ermittlungsverfahren durch „pro Beweis“ hingewiesen werden.
Kinder und Jugendliche müssen genauso wie erwachsene Betroffene vor einem ungewollten Kontakt mit dem Täter geschützt werden. Das „Braunschweiger Modell“ – Video-Vernehmung durch eine/n Richter*in vor der mündlichen Hauptverhandlung – erspart in manchen Fällen die Vernehmung im Prozess und damit die Begegnung mit dem Täter und die Vernehmung direkt durch dessen Verteidiger*in. Ein Dilemma für Betroffene ist, dass sich eine Psychotherapie negativ auf die Gewichtung ihrer Zeugenaussage auswirken kann. Betroffene stehen deshalb häufig vor der Entscheidung, ob sie anzeigen wollen oder die traumatischen Erlebnisse mit Hilfe einer Psychotherapie aufarbeiten wollen. Auch hier kann eine Videovernehmung hilfreich sein, damit das Opfer mit der Therapie beginnen kann, weil die Aussage aufgenommen wurde.
Wir wollen, dass für von sexueller Gewalt Betroffene, das „Braunschweiger Modell“ flächendeckend angeboten wird! Dazu ist eine Änderung der Bundesgesetzgebung überfällig. Die Grünen in Niedersachsen müssen sich für eine entsprechende Bundesratsinitiative einsetzen.
- Wichtig sind auch Fortbildungen für Richter*innen zur Dynamik sexualisierter Gewalt und ihre Auswirkungen auf das Aussageverhalten von Betroffenen. Über ein internes Beurteilungssystem für Richter*innen können Anreize geschaffen werden, diese auch wahrzunehmen.
- Die zeitliche Dauer der Missbrauchssituation und der individuell erfahrenen sexualisierten Gewalt müssen Auswirkungen auf das Strafmaß haben.
- Der Bereich des Sexualstrafrechts, insbesondere die Verurteilungsquote bei Sexualstraftaten muss durch eine groß angelegte Studie, welche Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte einbezieht, evaluiert werden, um weitere qualitative Verbesserungen durchzusetzen.
- Auch fordern wir eine bessere Umsetzung der MiStra (Mitteilung im Strafsachen). Noch immer werden Täter, die unter Verdacht stehen, eine Sexualstraftat begangen zu haben besser geschützt als potentielle Opfer. Wir fordern, dass bei begründetem Verdacht eine Mitteilung an z.B. die Schule oder die Einrichtung geht in der der „Täter“ beschäftigt ist und die Einrichtung dann entscheiden kann, ob sie diese Person vom Dienst freistellt, damit es zu keiner weiteren Straftat kommt, die dadurch hätte verhindert werden können, oder Weisungen wie z. B. das Verbot die Betreuung von und den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen auch bei sogenannten „Ersttäter*innen“ angewendet werden.
Ein Gesetz allein hilft nicht, gesellschaftliches Denken zu verändern. Deshalb sind weitere Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt notwendig. Das bedeutet:
- Es müssen die Curricula für die Ausbildung und Studiengänge aller relevanten Berufsgruppen neu aufgestellt werden. In explizit zur Sensibilisierung angebotenen Seminaren können die Studierenden und Auszubildenden Fachwissen erlangen, damit sie kompetent und emphatisch im späteren Berufsleben mit den Opfern umgehen. Ebenso müssen (ehrenamtliche) Betreuer*innen beispielsweise in Sportvereinen oder von Jugendgruppen für die Thematik sensibilisiert und entsprechend fortgebildet werden.
Kinder und Jugendliche dürfen gar nicht erst zum Opfer werden. In allen Einrichtungen, in Sportvereinen, Jugendzentren, Kindergärten, Schulen etc. müssen Schutzkonzepte entwickelt und umgesetzt werden. Dazu gehört auch, Mädchen* und Jungen* Unterstützung und Hilfestellung für einen veränderten Umgang unter- und miteinander zu geben, dafür müssen Gelder und geschultes Personal eingestellt werden.
Es muss sichergestellt sein, dass keine einschlägig vorbestraften Täter*innen als Betreuer*innen eingesetzt werden. Ein normales Führungszeugnis ist nicht ausreichend, notwendig ist bei der Aufnahme einer Tätigkeit als Betreuer in Einrichtungen und Vereinen der Nachweis eines „qualifizierten erweiterten Führungszeugnis“. - Außerdem müssen alle Polizist*innen sowie die Sicherheitsdienste für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisiert und geschult werden und personell gut ausgestattet sein.
- Eine weitere Forderung ist eine repräsentative Studie über den Umgang mit Sexualstraffällen bei der Polizei, den Staatsanwaltschaften und den Strafgerichten. Wie greifen die Gesetze in den jeweiligen Ermittlungs- und Verfahrensstufen? Wie wird be- und entlastend ermittelt im Umfeld? Wie werden die Opfer in den verschiedenen Städten und Gemeinden über ihre Opferrechte, z.B. das Recht der Nebenklagevertretung informiert?
- Durch entsprechende Kampagnen, die Enttabuisierung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in die Zivilgesellschaft tragen, denn das gesamtgesellschaftliche Schweigen hilft den Täter*innen. Die Gesellschaft muss von den Übergriffen an Kindern und Jugendlichen erfahren.