Vor zwanzig Jahren, im Jahr 2004, kam es zu einem historischen Moment: Das Jahr
markierte den EU-Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten – hauptsächlich aus
Mittel- und Osteuropa – was die geografische, politische und wirtschaftliche
Landschaft der EU nachhaltig veränderte. Mit der sogenannten Osterweiterung
sollte die Teilung Europas in Ost und West endgültig überwunden und eine neue
Ära der Zusammenarbeit und Integration eingeleitet werden.
Die Auswirkungen dieser Erweiterung auf die Arbeitsmärkte und die Mobilität von
Arbeitskräften innerhalb der EU waren tiefgreifend. Die Freizügigkeit von
Personen, eine der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes, hat Millionen von
Bürger*innen aus den neuen Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, in anderen
EU-Ländern zu arbeiten, zu studieren und zu leben. Diese Mobilität hat jedoch
auch neue Herausforderungen hervorgebracht, insbesondere für Beschäftigte aus
Ostmittel- und Osteuropa sowie aus Drittstaaten wie der Ukraine und anderen, die
durch das Entsendesystem in die EU kommen und sich vorübergehend in einem
anderen EU-Staat aufhalten. Ihre persönlichen Geschichten sind oft
traumatisierend, denn das Arbeitsrecht und die behördlichen Strukturen sowohl im
Arbeitsland als auch im Herkunftsland schützen ihre Rechte bisher nur
unzureichend.
Mobile Beschäftigte haben wesentlich zum wirtschaftlichen Wachstum und zur
kulturellen Vielfalt in der gesamten Union beigetragen. Auch Niedersachsen, mit
einer ausgeprägten Landwirtschaft und Fleischindustrie, hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten zu einem Zielland von mobilen Arbeitsmigrant*innen
entwickelt. Branchen, in denen mobile Beschäftigte überwiegend arbeiten, sind:
- Paketbranche (Kurier-, Express- und Paketdienste, KEP-Branche),
- Bauwirtschaft (Bauhaupt- und Nebengewerbe),
- Häusliche Betreuung,
- Landwirtschaft (insbesondere Erntehelfer),
- Industrie,
- Schlachtereien und Fleischverarbeitung,
- Transport und Logistik (insbesondere LKW-Fahrer),
- Gebäudereinigung.
Mehrere Millionen mobile Beschäftigte in Deutschland arbeiten in diesen
Branchen; ohne sie würden diese stillstehen. Heute, zwanzig Jahre nach der EU-
Osterweiterung, sehen wir die dringende Notwendigkeit, entschlossen gegen die
Ausbeutung und das Sozialdumping in diesen Branchen vorzugehen. Die soziale
Integration mobiler Beschäftigter mussnicht nur gesellschaftlich, politisch
sondern auch betrieblich gefördert und Diskriminierung am Arbeitsplatz bekämpft
werden. Die Ungleichheit, der sich viele Menschen derzeit ausgesetzt sehen, ist
struktureller Natur und wir müssen sie auf verschiedenen Ebenen bekämpfen: in
der Ökonomie, beim Zugang zu Rechten, bei Fragen der Zugehörigkeit und der
Anerkennung.
Viele mobile Beschäftigte stecken in Werkvertragskonstruktionen fest – sei es,
dass sie selbst Werkvertragsnehmer sind, sei es, dass sie bei einem
Werkvertragsnehmer angestellt sind. Der Missbrauch von Werkverträgen ist in den
letzten Jahrzehnten zu einem echten Problem am Arbeitsmarkt geworden; zu einem
Instrument für Ausbeutung und prekäre Beschäftigung.
Die Bundesländer, darunter federführend Niedersachsen, haben sich bei der Reform
der Kurier-, Express- und Paketbranche (KEP-Branche) eindeutig auf die Seite der
Beschäftigten gestellt. Im Februar beschloss der Bundesrat eine Stellungnahme
zum Gesetz und forderte das Verbot von Subunternehmen in der Paketbranche sowie
eine echte 20-Kilogramm-Grenze in der Ein-Personen-Zustellung.
1. Wir bestärken die niedersächsische Regierung in ihren Forderungen des Verbots
von Subunternehmen in der KEP-Branche sowie der 20-Kilogramm-Grenze in der Ein-
Personen-Zustellung und erwarten Entschlossenheit, diese Position auch bei
weiteren Verhandlungen nicht aufzugeben. Denn ohne diese Maßnahmen droht eine
Fortsetzung des systematischen Rechtsbruchs. In der KEP-Branche arbeiten ca.
300.000 Arbeitnehmer*innen. Die Branche boomt mit dem Online-Handel. Für die
großen Paketdienstleister sind jedoch Tausende Subunternehmen tätig. Viele
Beschäftigte kommen aus Osteuropa sowie aus Drittstaaten und haben Verträge mit
mehreren Firmen, etwa für die Verladung und die Zustellung. Bis zu 300 Pakete
pro Tag müssen die Paketzusteller*innen liefern, sie tragen alleine manchmal bis
zu 70 kg schwere Pakete, 14-Stunden-Tage sind keine Seltenheit, ebenso wie
Dumpinglöhne, das Schlafen in den Fahrzeugen sowie willkürliche Strafen und
Arbeitssperren unter Missachtung von Datenschutz.
Ähnlich wie zuvor in der Fleischindustrie gilt für die Paketbranche:
Menschliches Leid ist Ergebnis einer fehlenden arbeitsmarktpolitischen
Regulierung. Subunternehmen, Leiharbeit und Werkverträge entlasten die großen
Unternehmen von der Verantwortung dafür, was die Arbeiter*innen verdienen und wo
sie wohnen – das ist rechtlich Aufgabe der Subunternehmen, von denen es häufig
ein ganzes Netzwerk gibt. Die Branche ist dadurch für die Behörden kaum effektiv
zu kontrollieren. Dies muss unterbunden werden, denn dieses System führt oft zu
einer organisierten Verantwortungslosigkeit. Das Verbot von Subunternehmen in
der Fleischindustrie war ein bedeutender Hebel und wegweisender Schritt, der zu
der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der mobilen Beschäftigten geführt hat.
Um die Situation mobiler Beschäftigter in Niedersachsen auch in anderen Branchen
zu verbessern, sind auf Landesebene zusätzliche Maßnahmen einzuleiten:
2. Die Ausstattung der Gewerbeaufsichtsämter mit dem nötigen Personal ist
essenziell, um die Durchsetzung von Arbeitsschutzrechten zu stärken. Dabei ist
eine Zunahme an Kontrollen von großer Bedeutung. Diese sollten ohne
Diskriminierung durchgeführt werden, wobei das Wohl und die Sicherheit aller
Beschäftigten stets im Mittelpunkt stehen müssen.
3. Mobile Beschäftigte sind auf Unterstützung und Beratung angewiesen.
Europäische Unternehmen in Deutschland (und in allen anderen EU-Staaten) haben
das Recht auf einen „Einheitlichen Ansprechpartner“, wenn sie Dienstleistungen
erbringen wollen. Es ist also selbstverständlich, dass Unternehmen beraten und
tatkräftig unterstützt werden. Auch die Arbeitnehmer*innen brauchen dies
dringend: Wir fordern einen Ausbau und eine Verstetigung der
Landesberatungsstellen für mobile Beschäftigte. Auf der europäischen Ebene
setzen wir uns dafür ein, auch für Arbeitnehmer*innen, die fernab des eigenen
Herkunftslandes tätig sind, europaweit ein entsprechendes Recht auf Beratung
einzuführen.
4. Die Praxis zeigt: Da sich transnationales Arbeiten und Leben in vielen
Biografien über ganze Jahrzehnte erstreckt, ist die Entwicklung von
Integrationskonzepten, die auf die Lebensrealität transnationaler Migration
(laut der EU-Kommission ca. 20 Millionen Menschen in Europa) zugeschnitten sind,
dringend erforderlich. Wir brauchen lokale und digitale Angebote für eine
bessere soziale Integration von mobilen Beschäftigten sowie einen verbesserten
Zugang zu Sprachkursen, Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Die hier
mobil arbeitenden Menschen sollen Chancen zur kulturellen, sozialen und
(gewerkschafts)politischen Teilhabe erhalten.
5. Im Rahmen der kommunalen Umsetzung der Istanbul-Konvention müssen
Betreuer*innen, die in Privathaushalten arbeiten, als Betroffenengruppe in den
Fokus rücken. Gewalt und Aggressionen durch Pflegebedürftige und Angehörige sind
in der Pflege keine Seltenheit. Hier gilt es, spezifische Schutzmaßnahmen auf
Landes- und Kommunalebene zu entwickeln.
6. Auf europäischer Ebene setzen wir uns für einen europäischen Aktionsplan ein,
der an der Schnittstelle mehrerer Rechtsbereiche ansetzt: dem Arbeitsrecht, dem
Sozialrecht und dem Aufenthaltsrecht. Dies ist von Bedeutung, da nicht nur EU-
Bürger*innen entsandt werden, sondern auch Drittstaatsangehörige, wie der Fall
der streikenden LKW-Fahrer in Gräfenhausen verdeutlichte.
Um die Teilung Europas und das europäische Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle
nachhaltig zu überwinden, ist es unabdingbar, höhere Arbeitsstandards für alle
zu etablieren, unabhängig von ihrer Herkunft. Nur so kann die Vision eines
gerechten und inklusiven Europas Wirklichkeit werden, in dem jeder Mensch die
gleichen sozialen Güter genießt. Wir treten der Diskriminierung mobiler
Beschäftigter entschlossen entgegen und setzen uns für einen fairen und sicheren
Arbeitsmarkt ein.