Europa: Für gute Arbeit und faire Löhne

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 13./14. April 2024 in Oldenburg

Europa als Garantin für Frieden, Freiheit und Wohlstand: Diese einstige
Gewissheit wird heute mehr denn je bedroht. Der russische Angriffskrieg auf die
Ukraine macht mit all seinen Folgen deutlich, wie fragil dieses Versprechen und
wie wertvoll ein geeintes Europa für uns alle ist. Rechtsextreme und
Faschist*innen sind europaweit auf dem Vormarsch. Sie nutzen die Krisen und
Unsicherheiten unserer Zeit und stellen die freie, vielfältige Gesellschaft
überall infrage. Das System dahinter: Ängste schüren und Menschen gegeneinander
ausspielen, um die eigene Agenda umzusetzen. Die extreme Rechte will ein
anderes, ein gespaltenes Europa, sie lehnt Prinzipien der Demokratie ab und
verachtet Minderheitenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Am Ende gibt sie keine
Antwort auf die tatsächlichen Herausforderungen unserer Zeit. Für uns GRÜNE in
Niedersachsen ist klar: Nur ein sozial gerechtes und solidarisches Europa ist
zukunftsfähig.

Wir Grüne sind Europapartei und überzeugte Demokrat*innen. Deshalb stehen wir
für eine souveräne, demokratische und handlungsfähige Europäische Union.
Europäische Interessen sind für uns niedersächsische Interessen. Wir liegen im
Herzen Europas. Die wirtschaftlichen Verflechtungen durch Import und Export mit
der Europäischen Union sind groß. Auf kommunaler Ebene haben rund 450
niedersächsische Kommunen Partnerschaften mit Kommunen aus anderen EU-
Mitgliedstaaten. Nicht zuletzt haben wir darum in unserem Koalitionsvertrag
klare Ziele festgelegt, wie Niedersachsen noch enger mit Europa zusammenwachsen
und dadurch weiter profitieren kann. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, wie
gefährlich anti-europäische Kräfte sind, insbesondere, wenn Europa nicht
sichtbar und spürbar wird vor Ort und wenn Menschen daran zweifeln, dass Politik
für sie da ist. Es gilt darum: Europa in Niedersachsen spürbar machen und
Niedersachsen in Europa.

Soziale Gerechtigkeit garantieren

Unsere Welt befindet sich im Wandel, und damit einher gehen viele Unsicherheiten
und finanzielle Sorgen. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter
auseinandergeht und Menschen ihre Miete oder Essen nicht mehr zahlen können,
stellt sich die Gerechtigkeitsfrage immer lauter. Für mehr Zusammenhalt und
Zuversicht muss die Europäische Union darum sozial gerechter werden. Wir wollen
eine EU, in der alle Menschen ein gutes und sicheres Leben haben: mit fairen
Löhnen, verlässlichen Arbeitsbedingungen, sozialer Sicherheit und Schutz vor
Diskriminierung und Ausbeutung. So stärken wir das Zutrauen der Bürger*innen in
eine handlungsfähige Europäische Union und nicht zuletzt in unsere Demokratie.
Eine Europäische Union als eine soziale Union ist auch ein Versprechen an die
Breite der Gesellschaft.

Bürger*innen müssen sich darauf verlassen können, dass sie sozial abgesichert
sind, egal ob in unvorhergesehenen Notlagen oder in der Rente. Jeder Mensch hat
das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, und dazu gehört ein Leben ohne Armut.
In jedem Europäischen Mitgliedsstaat braucht es starke, armutsfeste
Sozialsysteme.

Transformation gestalten

Unternehmer*innen wünschen sich eine Umgebung, die transformationsfreundlich und
offen ist. In der Investitionen mittel- und langfristig Früchte tragen. In der
motivierte, gut ausgebildete Arbeitnehmer*innen sowohl nach innen als auch nach
außen zum Erfolg eines Unternehmens beitragen. Für uns GRÜNE ist dies untrennbar
mit dem Schutz der Gesundheit und Sicherheit sowie Chancengleichheit der
Arbeitnehmer*innen verbunden. Dazu zählen die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz
sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung.

Die Grundsätze für ein soziales Europa sind in der Europäischen Säule sozialer
Rechte angelegt. Dabei darf es aber nicht bei Grundsätzen und Empfehlungen
bleiben. Wir wollen rechtsverbindliche und einklagbare Arbeits- und
Sozialstandards daraus ableiten.

Die Europäische Union muss zur Verbesserung des Status Quo geschlossen vorgehen
und braucht mehr finanzielle Mittel und Instrumente, um gemeinsam Strategien
anzuwenden. Dies bedeutet unter anderem, die Steuer für Superreiche einzuführen
und konsequent Steuerschlupflöcher zu schließen sowie Steuerbetrug besser zu
verfolgen. Denn wir sehen derzeit, dass die Mittelschicht zahlt, Milliardäre
aber nicht. Es bedeutet aber auch, die bereits bestehenden Möglichkeiten
effizienter zu nutzen. Klar ist: Aus Krisen spart man sich nicht heraus, man
investiert sich antizyklisch heraus. Nachfolgende Generationen werden uns nicht
dafür danken, besonders gut gespart zu haben, sondern dafür, dass wir klug und
nachhaltig investiert haben. Dafür muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt der
Europäischen Union so überarbeitet werden, dass die Schuldenbremse grundlegend
reformiert wird.

Nachhaltig wirtschaften

Damit wir in Zukunft sicher und gut leben können, muss die Klimakrise noch
ernsthafter angegangen werden. In Niedersachsen befinden wir uns mit den
Anstrengungen der Landesregierung auf einem hervorragenden Weg. Die Europäische
Union muss jedoch ihre weitergehenden Hebel zur Bekämpfung der Klimakrise voll
ausschöpfen, um ihre Bürger*innen zu schützen. Dies gelingt beispielsweise durch
die zügige Abkehr von fossilen Energieträgern wie Erdgas, Kohle und Öl. Wir
wollen die Vergabe von EU-Fördergeldern an Standards wie
Transformationspflichten, Tariftreue und eine Standortgarantie knüpfen. Das gilt
insbesondere auch für Branchen, die sich von alten Geschäftsmodellen
verabschieden müssen. Hier muss aktiv daran gearbeitet werden, Beschäftigte für
neue Aufgaben zu qualifizieren und zu halten. Auf Landesebene ist unser Ziel,
den sozial-ökologischen Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft in den
Mittelpunkt der Vergabe von EU-Fördermitteln zu stellen. Fördermaßnahmen müssen
dem Erreichen der Klimaziele des Landes dienen und die Schaffung vielfältiger
sozialer Infrastrukturen, soziale Daseinsvorsorge, regionale Wertschöpfung und
nachhaltige Mobilitätsangebote voranbringen. Mit gezielter Regionalentwicklung
soll die Transformation vor Ort erfolgreich umgesetzt werden, damit ländliche
Räume mit ihren Städten und Gemeinden sowie große Städte lebenswerte Orte sind.
Dafür muss die Förderung einfacher werden.

Arbeitsbedingungen gemeinsam verbessern

Die Gewerkschaften der Europäischen Union sind ein Schlüssel zur Durchsetzung
fairer Löhne, für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitsprache am
Arbeitsplatz. Für ihre Rechte und ihre wesentliche demokratische Rolle innerhalb
der EU-Institutionen kämpfen wir. Dafür brauchen sie mehr Rechtssicherheit,
besseren Rechtszugang und höhere Durchsetzungsmöglichkeiten. An der Seite der
Europäischen Betriebsräte wollen wir die EU-Kommission dazu auffordern, endlich
die bestehende Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten zu überarbeiten und
Ausnahmeregeln zu beenden. Insbesondere in länderübergreifenden Branchen, die
oft aus dem Sichtfeld und damit allzu leicht ins arbeitsrechtliche Dunkelfeld
geraten, wie etwa EU-Transporte bzw. Speditionsbranche, braucht es starke
Vertreter*innen für die Beschäftigten.

Die Arbeitswelt wandelt sich rasant für viele Beschäftigte in Niedersachsen.
Arbeiten wird immer digitaler und flexibler. Die Chancen, die sich daraus für
Betriebe und Arbeitnehmende ergeben, müssen genutzt werden, ohne dabei
Ausbeutung und Überwachung in der digitalen Arbeitswelt zuzulassen. Wir
unterstützen ausdrücklich die Einführung einer Richtlinie, mit der EU-weit im
Homeoffice gearbeitet werden kann. Die Mindestlohnrichtlinie ist ein konkreter
Erfolg. In Deutschland muss dieser Weg fortgesetzt werden und die EU-Empfehlung,
den Mindestlohn an 60% des Medianlohns zu koppeln, umgesetzt werden. Aber auch
für ganz Europa muss es ein wirksames Monitoring geben, damit Dumpinglöhne EU-
weit der Vergangenheit angehören und sich Arbeit lohnt.

Wer ackert, soll auch ernten können

Die Situation der Landarbeiter*innen und Landwirt*innen ist extrem
herausfordernd. Die Klimakrise bringt höheren Risiken für Extremwetter. Unsere
Landwirtschaft ist sowohl von Hochwasser als auch von Dürre sowie dem Verlust an
gesunden Böden stark bedroht. Die aktuelle Agrarpolitik der Europäischen Union
schützt kleinere und mittlere Familienbetriebe in Niedersachsen und in vielen
EU-Ländern noch nicht ausreichend vor diesen Folgen der Klimakrise. Die
Landesregierung setzt sich für den notwendigen Transformationsprozess auf
unseren niedersächsischen Betrieben ein. Dazu zählt für uns GRÜNE das klare
Bekenntnis zur bäuerlichen Landwirtschaft. Doch wir alleine können die Probleme
nicht lösen. Die strukturellen Defizite im Agrarsektor müssen wir europäisch
angehen, unsere kleinen und mittleren Betriebe stärken und die EU-
Landarbeiter*innen vor schlechten Arbeitsbedingungen schützen. Unnötige Hürden
der Bürokratie wollen wir abbauen, ohne dabei wichtige ökologische und soziale
Standards zu schleifen – für mehr Hofarbeit statt Schreibtischzeit.

Für gute Pflege sorgen

Deutschland ist auf Pflegekräfte aus dem EU-Ausland und Drittstaaten zwingend
angewiesen. Wir setzen uns dafür ein, die Arbeitsbedingungen für alle
Pflegekräfte in den EU-Mitgliedsstaaten zu verbessern. Für Pflegende sowohl im
beruflichen als auch im häuslichen Umfeld muss die Vereinbarkeit von Arbeits-
und Privatleben gestärkt werden.

Freiheit und Perspektiven für eine sichere Zukunft

Europa ist eine Einwanderungsunion mit großem Arbeits- und Fachkräftemangel. Wir
fordern darum mehr Bemühungen bei der Fachkräftegewinnung durch eine umfassende
EU-Fachkräftestrategie. Hierfür möchten wir die EU-Blue-Card auf nicht-
akademische Berufe ausweiten, wenn ein konkretes Jobangebot zu marktüblichen
Konditionen vorliegt. Perspektiven, Teilhabe und Integration müssen dabei stets
gesichert sein und Hürden abgebaut werden.

Mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) verfügt die EU über ein gutes
finanzielles Instrument zur Förderung von Beschäftigung und sozialer
Eingliederung. Er unterstützt auch bei uns in Niedersachsen Maßnahmen zur
Förderung der Beschäftigung und Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Die
Beschäftigungschancen besonders von benachteiligten Langzeitarbeitslosen, jungen
Menschen und migrantisierten Menschen werden dadurch erhöht. Diese
Erfolgsgeschichte möchten wir fortführen und verstärken.

Wir wollen das Arbeits-, Sozial- und Aufenthaltsrecht harmonisieren – sowohl für
EU-Bürger*innen als auch Drittstaatsangehörige. Dazu gehören das Recht der
Arbeitnehmer*innen, sich frei zu bewegen und niederzulassen, das Zuzugs- und
Aufenthaltsrecht für Familienmitglieder und das Recht, in einem anderen
Mitgliedstaat der EU zu arbeiten und ebenso wie die Staatsangehörigen dieses
Mitgliedstaats behandelt zu werden. Eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende
unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige
Arbeitsbedingungen darf es nicht geben.

Erstmals dürfen bei der bevorstehenden Europawahl auch Menschen ab 16 Jahren
ihre Stimme abgeben. Damit sich junge Menschen in den politischen Prozess
einbringen können, sollen sie mehr Mitsprache bekommen – und auch wählen dürfen.
Dieser große Erfolg, ein eingelöstes Wahlversprechen, wirkt sich nachhaltig auf
die bessere politische Beteiligung junger Menschen aus. Dies stärkt das
Bewusstsein für die Verantwortung über die Zukunft der Europäischen Union, denn
gerade für junge Menschen ist die EU elementarer Bestandteil ihrer Zukunft.
Dafür muss Europa aber auch attraktiv und nahe an den Lebensrealitäten sein:
Durch die Freizügigkeit können junge Menschen ganz Europa entdecken, sich mit
anderen europäischen Jugendlichen austauschen, neue Sprachen lernen und den Wert
eines gemeinsamen europäischen Zuhauses erleben. Das stärkt den Zusammenhalt und
ist ein gutes Fundament für Völkerverständigung und Frieden. In Niedersachsen
bekennen wir uns klar dazu, diese Maßnahmen voll und ganz zu unterstützen.
Außerdem bauen wir die Europabildung an Schulen weiter aus.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, eine faire Verteilung von Macht, mehr
Frauen in Chefpositionen und in den Parlamenten, kurz: eine geschlechtergerechte
Gesellschaft – und ein geschlechtergerechtes Europa – ist unser Ziel. Wir
befürworten deshalb explizit Programme, die die Gleichstellung der Geschlechter
fördert und Maßnahmen gegen Diskriminierung umsetzt. Wir fordern in unserem
Wahlprogramm einen Bonus für Unternehmen, die aktiv Frauen in Branchen fördern,
in denen sie noch immer unterrepräsentiert sind. Unternehmen und Betriebe aus
Branchen, in denen bislang unterdurchschnittlich viele Frauen beschäftigt sind,
können den Bonus bei der EU-Fördermittelvergabe erhalten, wenn sie
überdurchschnittlich viele Frauen ausbilden oder beschäftigen. Die
Gewerkschaften sind hierbei unsere Verbündeten. Gemeinsam mit ihnen und den
Betrieben arbeiten wir daran, eine gleichberechtigte Teilhabe und gleiche
Bezahlung der Geschlechter sicherzustellen. Gleichzeitig wollen wir die
Bezahlung, Arbeitsbedingungen und Anerkennung von derzeit noch überwiegend
weiblich besetzten Berufsfeldern gezielt verbessern.

UN-Behindertenrechtskonvention auch am Arbeitsplatz wirksam umsetzen

Menschen mit Behinderung werden immer noch in vielen Lebensbereichen
diskriminiert. Wir sagen: Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ein
Menschenrecht, das für alle gilt. Vor nun über zehn Jahren ist in der
Europäischen Union die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft
getreten. Diese verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, Teilhabe, ein
selbstbestimmtes Leben, Zugänglichkeit und Chancengleichheit für Menschen mit
Behinderung zu garantieren. Dennoch wird die UN-BRK nach wie vor weitgehend
ignoriert – sei es beim Wohnen, Arbeiten oder Reisen. Wir Grüne in Niedersachsen
sagen: Die Europäische Union muss mehr Druck auf ihre Mitgliedstaaten ausüben,
damit die EU endlich der UN-BRK nachkommt. Wir fordern darum verpflichtende
Diversitätsquoten, bessere Unterstützung für Unternehmen und das Auslaufen von
Behindertenwerkstätten sowie die gezielte Stärkung von inklusiven Alternativen.
Inklusion heißt: Menschen mit und ohne Behinderung haben die gleichen Rechte und
können zusammen arbeiten, statt getrennt. Entsprechend gilt für alle der
Arbeitnehmer*innen-Status und der gesetzliche Mindestlohn.

Gemeinsam sorgen wir dafür, dass die Europäische Union sowohl in sich als auch
im europäischen Wettbewerb funktioniert. Ein starkes und geeintes Europa bietet
die beste Garantie für Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit für alle
Menschen. Wir wollen Europa schützen, damit es uns schützt. Wir wollen ein
Europa der Solidarität, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, das
nicht allein nationalstaatliches Interesse, sondern die Gemeinschaft im Blick
hat. Wir wollen die Errungenschaften der EU erhalten und sie zugleich
weiterentwickeln, hin zu einer nachhaltigen, demokratischen und sozial gerechten
Gemeinschaft. So stärken wir das Zutrauen der Bürger*innen in eine
handlungsfähige Europäische Union, die den Demokratiefeinden keinen Raum lässt.

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen am 13./14. April 2024 in Oldenburg