„Eine kluge Sozialpolitik sorgt dafür, dass der Mensch Bürgerin und Bürger sein kann.“
Aus den zahlreichen inzwischen vorliegenden Untersuchungen und Veröffentlichungen von Verbänden und einzelnen Wissenschaftlern zum Thema Grundsicherung und aus vielen Berichten Betroffener müssen wir die Schlussfolgerung ziehen, dass das System „Hartz IV“ als Grundsicherung aktuell weder in der Lage ist, den Betroffenen eine angemessene Teilhabe an unserer Gesellschaft zu gewähren, noch die Möglichkeit bietet, den arbeitsfähigen unter ihnen aus ihrer Situation heraus zu helfen. Tatsächlich haben die mit der „Agenda 2010“ eingeführten „arbeitsmarktfördernden Maßnahmen“ bei Zeitarbeit, Arbeitskräfteverleih und Minijobs zu massiver Niedriglohnbeschäftigung geführt, die zahlreiche Arbeitnehmer selbst mit Vollzeit-Jobs zu Hartz IV-Aufstockern machen und so aus der Armutsfalle nicht mehr herauskommen. Besonders besorgniserregend sind der hohe und weiter zunehmende Anteil der in Armut lebenden Kinder und die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau.
Wer in Deutschland eine Grundsicherung durch den Staat benötigt, wird zunächst mit einem unübersichtlichen System von rechtlichen Regelungen konfrontiert. Bereits bei der Frage des Zugangs finden sich erhebliche Barrieren durch unterschiedlichste gesetzliche Zuständigkeiten – als steuerfinanzierte Leistungen gibt es das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Hilfe zum Lebensunterhalt, sowie die Berufsausbildungsbeihilfe und das BAföG und bedauerlicherweise nach wie vor das Asylbewerberleistungsgesetz. Und selbst wenn man an der richtigen Stelle ankommt, beginnt eine komplizierte Spirale von Bedürftigkeitsprüfungen und Bedarfsermittlungen, die bis zum Leistungsbezug mit hohen Unsicherheiten für die Anspruchsberechtigten verbunden ist. Aber auch dann bleibt keine Verlässlichkeit über die Hilfeleistungen, jede oft auch nur vorübergehende Veränderung der Lebenssituation führt zu verwaltungsintensiven Neuberechnungen, eventuellen Rückforderungen und Rechtskreiswechseln. Für erwerbsfähige Betroffene drohen darüber hinaus „Verhaltenssanktionen“, die den Grundbedarf an Leistungen betreffen. Angesichts dieser Situation ist es wenig verwunderlich, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Sozialstaat schwindet, Armut zunimmt und sich Abstiegsängste verstärken.
Wir brauchen aber gerade in der aktuellen Situation mit den Herausforderungen bei der Zuwanderung, der Bekämpfung von Armut und verfestigter Langzeit-Arbeitslosigkeit ein starkes und robustes soziales System, das verlässliche und unkomplizierte Hilfe leisten kann; dies umso mehr, weil die immer tiefer greifenden Gerechtigkeitsdefizite in unserer Gesellschaft zunehmend auch rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte hervorbringen, die das solidarische Zusammenleben bei uns in Frage stellen.
„Ausgrenzung statt Teilhabe an der Gesellschaft“ – so lautet zusammengefasst das Ergebnis von 10 Jahren SGB-Reformen. Das beginnt bereits mit der völlig unzureichenden Höhe der Leistungen, die sogar durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt wurde. Nach dessen Urteil ist die Sicherung des Existenzminimums nicht ins politische Belieben gestellt. Sie ist verbindlicher Auftrag der Sozialpolitik.
Nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands wurden jedoch noch nicht einmal die eigenen Berechnungsgrundlagen der Bundesregierung von dieser korrekt angewandt: Nach einer Expertise der Paritätische Forschungsstelle müsste eigentlich der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen bei korrekter und vollständiger Anwendung des von der Bundesregierung selbst gewählten Statistikmodells zum 1.1.2016 auf 491 Euro statt auf 404 Euro angehoben werden. (Hartz IV: Paritätischer wirft Bundesregierung statistische Willkür vor und fordert 491 Euro Regelsatz, 28.12.2015)
Eine umfassende Reform der Grundsicherung muss aus diesem Grund alle Leistungen dieses Systems innerhalb der Sozialgesetzbücher in den Blick nehmen. Eine isolierte Betrachtung des Rechtskreises des SGB II („Hartz IV“) führt nach den bisherigen Erfahrungen zu keiner Verbesserung für die Leistungsberechtigten und ausdrücklich auch nicht zu einer Entlastung der zuständigen Behörden (Jobcenter). Das zeigt auch der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung zur sogenannten „Rechtsvereinfachung im SGB II“.
Im Bereich der Arbeitsmarktförderung können die statistischen Zahlen zur Arbeitslosigkeit nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Großteil der Erwerbslosen vergleichsweise chancenlos bleibt. Dies gilt besonders für über eine Million langzeitarbeitsloser Menschen, die die jetzige Bundesregierung völlig aus den Augen verloren hat. Es bedarf daher der Einrichtung eines verlässlichen sozialen Arbeitsmarktes mit Hilfe öffentlich geförderter Beschäftigung und erhöhter zielgerichteter Eingliederungsmaßnahmen für die Menschen im SGB II-Bezug. Um außerdem sozialen Abstiegsängsten z.B. durch drohende Arbeitslosigkeit zu begegnen, brauchen wir eine Verlängerung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALG I).
Bündnis90/Die Grünen haben zu einer existenzsichernden und konsequent teilhabeorientierenden Grundsicherung sowie zur Verbesserung bei Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt bereits richtungsweisende Parteitags- und Fraktionsbeschlüsse gefasst – wie u.a. im Antrag 17/3207 der Bundestagsfraktion aus dem Jahre 2010 („Rechte der Arbeitsuchenden stärken“), dem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes aus 2012 (BT-Drucksache 17/11076) dem Teilhabebeschluss auf der BDK im November 2012 („Eine Gesellschaft für alle“), im Bundestagswahlprogramm 2013, dem Antrag 18/3918 („Arbeitsförderung neu ausrichten“) der Bundestagsfraktion und mit dem Arbeitszeitpolitik-Beschluss auf der BDK im November 2015.
Vor diesem Hintergrund spricht sich die Landesdelegiertenkonferenz für folgende Veränderungen im Leistungsbereich der Sozialgesetzgebung aus:
- Die Regelsätze werden konsequent verfassungskonform, tatsächlich bedarfsdeckend und damit armutsfester gestaltet, wobei die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands eine nachvollziehbare Datenbasis setzen. Das gilt auch für angemessene Freigrenzen (Einkommen und Vermögen) bei der Bedarfsfeststellung.
- Eine teilhabeorientierte Existenzsicherung – gerade für Frauen und Kinder – setzt eine Individualisierung der Bedarfsberechnung voraus, Bedarfsgemeinschaften sichern diesen Anspruch nicht. Die Regelsätze für Kinder müssen eigenständig berechnet werden.
- Der Zugang zu allen Grundsicherungsleistungen muss leichter und barrierefrei werden. Wir streben eine Bündelung verschiedener gleichartiger Ansprüche zu einer einheitlichen Grundsicherung
- Die „Bestrafungslogik“ im Grundsicherungssystem steht zunehmend im Widerspruch zur selbstbestimmten Teilhabe. Sanktionen gefährden sowohl den kooperativen Charakter des Fallmanagements wie auch ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wir bekennen uns daher weiterhin zu einem Sanktionsmoratorium – zumindest bis die Rechtsstellung der Betroffenen gegenüber dem Fallmanager wesentlich verbessert ist – für den gesamten Leistungsanspruch der Betroffenen, insbesondere für alle Sonderregelungen bei Menschen unter 25 und vollständig für die Kosten der Unterkunft und Heizung.
4/4 - Wiedereinführung eines Rentenversicherungsbeitrags für ALG-II-Empfänger*innen.
Die Landesdelegiertenkonferenz spricht sich ebenfalls für Veränderungen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktintegration aus:
- Grundsätzlich bekommen alle erwerbsfähigen Arbeitsuchenden Zugang sowie ein Wahlrecht zu sämtlichen Eingliederungsmaßnahmen der Arbeitsverwaltungen. Für Langzeitarbeitslose wird ein sozialer Arbeitsmarkt mit Hilfe des sog. Passiv-Aktiv-Transfers geschaffen.
- Prekäre Beschäftigung und die Unsicherheit bei drohendem Arbeitsplatzverlust sind die größten Risiken für gesellschaftliche Teilhabe. Darum muss die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld (ALG I) stufenweise für alle Anspruchsberechtigten wieder deutlich angehoben werden.
- Die generelle Sozialversicherungspflicht für geringfügige Beschäftigung wird wieder hergestellt.
Die Landesdelegiertenkonferenz beauftragt den Landesvorstand, diese vereinheitlichenden Reformansätze in die Debatte um das Bundestagswahlprogramm 2017 einzubringen.