Die innere Sicherheit auf den Stand der Zeit bringen – Für eine sichere und resiliente Gesellschaft

Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 02./03.11.2024

So viele rechte Straftaten wie noch nie seit der Nachkriegszeit, islamistischer
Terror, das erhöhte Schutzbedürfnis für jüdisches Leben, hybride Kriegsführung
aus dem Kreml, Gefahr durch organisierte Kriminalität wie der Mafia, Angriffe
auf Einsatzkräfte – die vergangenen Jahre haben die Herausforderungen für die
innere Sicherheit in Deutschland auf schmerzliche Weise verdeutlicht. Der
furchtbare Anschlag von Solingen und die hiervon ausgelöste Debatte hat einmal
mehr gezeigt, wie verletzlich unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft
ist. Die teils diffusen, teils sehr konkreten Bedrohungslagen erfordern
passgenaue sicherheitspolitische Antworten, die nicht nur kurzfristig, sondern
nachhaltig und präventiv angelegt sind. Die politischen und medialen Reaktionen
auf den Anschlag von Solingen boten dabei bisher kaum tragfähige Antworten für
eine funktionierende Sicherheitsarchitektur. Sicherheit in Deutschland muss
gestärkt werden, darf dabei aber nicht die Freiheitsrechte der Bürger*innen
aufgeben. Für uns geht beides Hand in Hand und ergänzt sich. Politik ist
gefragt, Lösungen und Ansätze aufzuzeigen und zu unterstützen, die das
Sicherheitsbedürfnis von Menschen als Grundbedürfnis ernst nehmen.

1. Sicherheitsbehörden stärken

Um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden, brauchen wir eine auf lange
Sicht gut ausgestattete Polizei und Sicherheitsbehörden, die personell und
technisch den aktuellen und künftigen Herausforderungen gewachsen sind. Dazu
gehört auch die Digitalisierung der Sicherheitsbehörden. Ein modernes, gut
vernetztes und bürgernahes Sicherheitssystem ist Voraussetzung für die
Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität und rechtem und
islamistischem Extremismus.

Wir fordern:

  • Eine auf lange Sicht verstärkte Investition in die personelle und
    technische Ausstattung der niedersächsischen Polizei und
    Sicherheitsbehörden
  • Bessere Arbeitsbedingungen, verlässliche und belastbare
    Aufstiegsmöglichkeiten und moderne Arbeitszeitmodelle, um den Polizeiberuf
    für zukünftige Generationen attraktiv zu machen
  • Erhöhung der Zahl von Nachwuchskräften und bessere
    Ausbildungsmöglichkeiten, insbesondere in den Bereichen Cyberkriminalität
    und digitaler Terrorismusbekämpfung, die im Arbeitsalltag auch
    Niederschlag finden
  • Regelmäßige, professionell angeleitete Supervision und
    Einsatznachbereitung für Teams in der Polizei. Dafür braucht es
    kompetentes, zusätzliches Personal
  • Prüfung eines Rotationsprinzips in „Brennpunktdienststellen“ – Vorgaben
    für Verweildauern in bestimmten Bereichen
  • Digitalisierungsoffensive statt Merkbuch – das benötigt dauerhafte
    Haushaltsmittel
  • Deutliche verbesserte Handlungs- und Rechtssicherheit beim Umgang mit
    psychisch Kranken, klare Zuständigkeiten und Regeln und damit eine
    Entlastung für polizeiliches Handeln
  • Kompetenz-Offensive zur Einstellung von Menschen mit
    Migrationshintergründen, die zusätzlich sprachliche und kulturelle
    Kompetenz einbringen können
  • Gut ausgebildete Landespolizei für Grenzkontrollen oder Abschiebungen zu
    verwenden ist wenig sinnvoll
  • Sicherheitsbehörden sensibilisieren für zunehmenden Antifeminismus
  • Digitale Überwachung von verfassungsfeindlichen Netzwerken und generelle
    Bekämpfung von Hassrede und Gewaltverherrlichung auch durch KI muss
    ausgebaut werden
  • Eine engere internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden ist
    nötig, um grenzüberschreitende Terrornetzwerke zu zerschlagen,
    organisierte Kriminalität und verfassungsfeindliche Propaganda zu
    bekämpfen
  • Der Digital Services Act, kürzlich erst in Kraft getreten, muss sich noch
    in der Praxis bewähren. Es braucht schon jetzt eine deutliche Verschärfung
    beim Verbot von sogenanntem Coordinated Unauthentic Behavoir (CIB), um
    Verbreitungsmechanismen, die die Wirkung gefährlicher Posts massiv
    verstärken, einzudämmen

2. Prävention und Deradikalisierung als zentrale Aufgaben

Als Gesellschaft ist es unser Ziel, ein Zusammenleben frei von Gewalt und
Diskriminierung zu gewährleisten. Präventive und repressive Maßnahmen und die
Stärkung von Teilhabe und des gesellschaftlichen Zusammenhalts müssen
miteinander kombiniert werden. Um Hassgewalt zu verhindern und zu bekämpfen,
bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes, der Menschenhass entgegenwirkt. Die
Bekämpfung von Rechtsextremismus, Islamismus und allgemein Kriminalität beginnt
in der Mitte der Gesellschaft. Präventive Maßnahmen wie soziale Programme,
Bildung und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts müssen in den
Mittelpunkt rücken. Dabei ist Einsatz von staatlicher, aber auch
zivilgesellschaftlicher Seite gefragt.

Es braucht:

  • Eine zügige Verabschiedung des Demokratiefördergesetzes, um
    zivilgesellschaftliche Organisationen in ihrem Engagement gegen
    Demokratiefeinde nachhaltig zu unterstützen
  • Programm „Demokratie leben“ mit ausreichend Finanzmitteln ausstatten – der
    Bund muss etwaige Mittelkürzungen abwenden, nach unserer Auffassung sogar
    ausbauen, da die Einschnitte bei Präventions- und Qualifizierungsmaßnahmen
    in der aktuellen Zeit nicht mehr vertretbar sind
  • Den Ausbau von Programmen zur politischen Bildung, Integration,
    Sprachförderung, Medienkompetenz und Radikalisierungsprävention,
    insbesondere im Bereich der sozialen Arbeit und der Schulen, bspw.
    niederschwellige Begegnung von Einsatz- und Rettungskräften mit Menschen
    außerhalb von Einsatzkontexten als Mittel der Gewaltprävention
  • Präventions- und Reflexionsangebote für junge Männer finanziell
    sicherstellen
  • Ausbau von Deradikalisierungsprogrammen und Zusammenarbeit mit
    zivilgesellschaftlichen Akteuren, um ideologische Radikalisierungen
    frühzeitig zu verhindern
  • Politische Bildung und lebendige Erinnerungskultur sind zentrale Mittel
    für die Stärkung der Demokratie. Erinnerungskultur und politische Bildung
    hängt häufig am Ehrenamt – hierfür braucht es unsere Unterstützung für die
    Ehrenamtlichen sowie Stärkung im Hauptamt
  • In der Regel sind Täter und ihre Unterstützer männlich, häufig zudem jung.
    Niedrigschwellig via Influencer oder Games soll genau diese Zielgruppe
    adressiert werden und dem stärker werdenden Sog der Social Media-
    Algorithmen entgegenwirken
  • Die Förderung und Stärkung von Immigrations- und Integrationsnetzwerken in
    Niedersachsen und im Bund sowie die Sensibilisierung der
    Mehrheitsgesellschaft für Rassismus und Ausgrenzung und ihren Folgen etwa
    durch Bildungsprogramme ist von herausgehobener Bedeutung für ein
    gelingendes Zusammenleben in Vielfalt
  • Die Armutsgefährdung bei unter 15- bis 17-Jährigen mit
    Migrationshintergrund ist fast dreimal so hoch wie bei Personen ohne
    Migrationshintergrund. Armutsbekämpfung und soziale Infrastruktur sind
    Prävention. Da, wo Menschen Sicherheitsnetze und ein Aufstiegsversprechen
    vorfinden statt Perspektivlosigkeit, sinkt das Risiko
  • Wirksame Islamismusprävention erfolgt auch durch eine Verbesserung der
    Ausbildung von Imamen in Deutschland, die auch als Vermittler zwischen
    Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft helfen
  • Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Gruppe
    beherzt, die der wachsenden Bedrohung durch Völkische Siedler
    entgegenstehen und aufklären
  • Auskömmliche Finanzierung von Organisationen wie der Mobilen
    Beratungsstelle Rechtsextremismus

3. Reform des Rechtsstaats und der Justiz

Ein starker Rechtsstaat bildet die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb müssen
Polizei und Justiz in der Lage sein, effizient zu arbeiten. Wir fordern:

  • Eine Verbesserung der finanziellen und personellen Ausstattung von
    Gerichten und Staatsanwaltschaften, um die Überlastung zu bekämpfen
  • Eine Digitalisierung der Justiz und eine stärkere Vernetzung der Polizei
    mit anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen
  • Die Einschränkung des ministeriellen Weisungsrechts gegenüber der
    Staatsanwaltschaft, um mehr Unabhängigkeit und Transparenz zu
    gewährleisten

4. Waffenrecht verschärfen

Die jüngsten Vorfälle von Gewaltverbrechen zeigen den Handlungsbedarf beim
Waffenrecht. Daher setzen wir uns ein für:

  • Eine Verschärfung des Waffenrechts, das den illegalen Besitz von Waffen
    erschwert und strenger kontrolliert.
  • Mitgliedern einer Partei, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als
    Verdachtsfall für verfassungsfeindliche Bestrebungen eingestuft wird, kann
    eine waffenrechtliche Unzuverlässigkeit zugeschrieben werden.
  • Evaluation der Arbeit der Waffenbehörden
  • Konsequentes Vorgehen gegen den Waffenschwund bei staatlichen
    Sicherheitsorganen
    , mit intensiver Suche und Rückführung verschwundener
    Bestände und Fokus auf Verbindungen zu Rechtsextremen und Reichsbürgern
    sowie eineVerschärfung und Kontrolle der sicheren Verwahrung und
    lückenlosen Dokumentation von Asservaten, Dienstwaffen und Munition.

5. Föderale und europäische Zusammenarbeit verbessern

Die föderale Struktur Deutschlands ist ein wichtiger Bestandteil unserer
Demokratie. Dennoch behindern ineffiziente Zuständigkeiten oft die effektive
Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern. Wir schlagen daher
vor, diese Zusammenarbeit zu vereinfachen und bestehende Doppelstrukturen zu
beseitigen, um Terroristen und Kriminellen keine Schlupflöcher zu bieten.

Gleichzeitig ist Sicherheit auch ein wichtiges Thema für die Europäische Union.
In der sich rasant veränderten Situation ist mehr denn je keine
Nationalstaaterei, sondern europäische Vernetzung und unbürokratische
Zusammenarbeit das Gebot der Stunde. Die Forderungen nach Grenzkontrollen und
Zurückweisungen an der deutschen Grenzen sind nicht sinnvoll. Wir wollen den
freien Grenzverkehr mit unseren europäischen Nachbarn nicht beeinträchtigen und
das Schengen-System gefährden, sondern enger zusammenwachsen.Der Landesvorstand
und die Landtagsfraktion, als Regierungspartei in Niedersachsen, werden dafür
eintreten, dass die temporären Grenzkontrollen zu den Nachbarländern, hier
insbesondere zu den Niederlanden als Nachbarland von Niedersachsen, so schnell
wie möglich
eingestellt bzw. auf keinen Fall verlängert werden.

Europäisches Recht aufgeben ist keine Sicherheitspolitik im Sinne dieses Landes.

6. Innere und äußere Sicherheit gehören zusammen

Innere Sicherheit und äußere Sicherheit gehören untrennbar zusammen. Ob
Spionage, gezielte Destabilisierungsversuche von Demokratien, von Autokratien
organisierter Online-Hass und Hetze oder Angriffe auf digitale, aber auch
physische Infrastrukturen an Land und in den Meeren: Es ist höchste Zeit, die
Kritischen Infrastrukturen noch besser zu stärken und zu schützen, insbesondere
aus niedersächsischer Perspektive. Auch in Lingen mit der Brennelementefabrik
sehen wir, dass reale Bedrohungen existieren, die wir sehr genau beobachten. Es
braucht mehr Schutz für unsere Demokratie, ihre Institutionen und die Menschen
in diesem Land, damit wir wehrhaft bleiben.

Eine gute Sicherheitspolitik muss umfassend, präventiv und vernetzt sein. Es
reicht nicht, kurzfristig auf Bedrohungen zu reagieren – wir müssen
vorausschauend handeln, um die Grundlagen unserer freien und demokratischen
Gesellschaft zu sichern. Wir können uns dabei weder Naivität noch Ignoranz oder
Tatenlosigkeit leisten. Als Bündnis 90/Die Grünen übernehmen wir Verantwortung
und bieten konkrete Lösungen für die Herausforderungen der inneren Sicherheit in
Zeiten multipler Bedrohungslagen, keine unterkomplexen Bierzeltreden.