Mit großem Entsetzen blicken wir auf die sich derzeitig immer weiter verschärfende Entwicklung der innenpolitischen Lage in der Türkei. Auf den gescheiterten Militärputsch ist ein ziviler Putsch durch die Regierung Erdoğan gefolgt mit der faktischen Abschaffung von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaat. Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen lehnen diese anti-demokratischen Tendenzen in der Türkei entschieden ab – ein Beitritt des Landes zur Europäischen Union ist durch diese Politik nur noch schwer vorstellbar.
Schwere Menschenrechtsverletzung mit Massenverhaftungen, Folter und Misshandlung werfen das Land um Jahrzehnte auf dem Weg zu Frieden und Demokratie zurück. Unsere Solidarität gilt daher allen Oppositionellen, Journalist*innen und den zivilgesellschaftlichen Kräften, die Opfer der Repressionen von Präsident Erdoğan sind.
Auch in Niedersachsen bewegen die Vorgänge in der Türkei viele Menschen, egal ob mit oder ohne türkische Wurzeln. Die Türkei ist unmittelbar Thema in der niedersächsischen Landespolitik, denn die rot-grüne Landesregierung führt Gespräche über einen Vertrag mit den muslimischen Verbänden in Niedersachsen, um Fragen des muslimischen Lebens, von Bildung, Seelsorge, Wissenschaft, Bestattungswesen u.ä. auf eine klare rechtliche Grundlage zu stellen. Partner bei diesen Vertragsverhandlungen sind die muslimischen Verbänden DITIB Niedersachsen und Bremen e.V. und SCHURA Niedersachsen – Landesverband der Muslime e.V. sowie der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V..
DITIB ist vom türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei (Diyanet İşleri Başkanlığı) abhängig, die wiederum dem türkischen Ministerpräsidenten unterstelltet ist. Diese Abhängigkeit der DITIB von der türkischen Regierung ist vor dem Hintergrund der beschriebenen anti-demokratischen Entwicklungen in der Türkei höchst problematisch. Sie macht sich besonders an den Geistlichen (Imame) fest, die aufgrund einer fehlenden Imam-Ausbildung in Niedersachsen und Deutschland noch immer in der Türkei ausgebildet und von dort zu uns entsandt werden.
Dessen ungeachtet müssen die rund 400.000 in Niedersachsen lebenden Menschen muslimischen Glaubens ihre Religion im Einklang mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausüben können. Im LDK-Beschluss vom 29.05.16 haben wir daher unter der Überschrift „Für religiöse und weltanschauliche Pluralität in Niedersachsen“ festgestellt, dass der Islam seinen festen Platz in der niedersächsischen Gesellschaft hat und dass das Land Niedersachsen den muslimischen Verbänden eine Perspektive bieten muss, um unabhängige, inländische und hauptamtliche Strukturen aufzubauen, die sich langfristig selbst tragen können. Diese Entwicklung kann nicht verordnet, sondern muss im Dialog mit den muslimischen Verbänden erarbeitet und auf eine vertragliche Grundlage gestellt werden. Auch die Bundesdelegiertenkonferenz vom 11-13.11.2016 hat diesen dialogischen Prozess als Schritte des Respekts gegenüber muslimischen Gläubigen ausdrücklich anerkannt und befürwortet.
Der Vertragsentwurf ist bereits seit fast einem Jahr öffentlich zugänglich, um größtmögliche Transparenz zu gewährleisten. Die rot-grüne Landesregierung plant einen breiten gesellschaftlichen Diskurs für das kommende Jahr mit mehreren landesweiten Veranstaltungen.
Als bundesweit einmalige Neuerung sieht der Artikel 14 des Vertragsentwurfs im Gegensatz zu den so genannten „Ewigkeitsklauseln“ in vielen Staatskirchenverträgen eine „Freundschafts- und Anpassungsklausel“ vor, die spätestens nach fünf Jahren eine Anpassung des Vertrags vorsieht. Ausdrückliches Ziel dieser Anpassungsklausel ist ein ständiger inhaltlicher, kritischer Diskurs und die Sicherstellung der Weiterentwicklung der Beziehungen.
Die Landesdelegiertenkonferenz in Gifhorn am 29.05.2016 hat sehr kritisch die Abhängigkeit der Imame von der türkischen Regierung diskutiert und sich sehr kritisch zu dieser positioniert. Die LDK hat beschlossen, im Rahmen eines solchen Vertrags mit den muslimischen Verbänden eine Perspektive aus dieser Abhängigkeit mit dem Ziel zu erarbeiten, unabhängige, inländische und hauptamtliche Strukturen in Niedersachsen aufzubauen, die sich langfristig selbst tragen. Bündnis 90/Die Grünen in Niedersachsen bekräftigen ihren Landesparteitagsbeschluss aus dem Mai 2016 erneut und lehnen trotz der schwierigen politischen Rahmenbedingungen einen Abbruch der Vertragsverhandlungen ab.