Seit dem 19. Februar 2013 sitzen die GRÜNEN nach 19 Jahren in der Opposition in der Landesregierung. Was hat sich für die Landespartei verändert?
Jan Haude: In den vergangenen Jahren waren wir der Gegenpart zur jeweiligen Landesregierung und haben diese mit unseren politischen Initiativen vor uns hergetrieben. Jetzt haben wir die Möglichkeit, unsere Ideen und politischen Konzepte in Regierungshandeln umzusetzen. Wichtig ist dabei eine enge Abstimmung zwischen den grünen Kabinettsmitgliedern, der Landtagsfraktion und der Landespartei. Diesen Prozess gilt es in den kommenden Wochen und Monaten weiter zu entwickeln. Nicht nur im Politikstil der Landesregierungen setzen wir Grüne auf mehr Dialog, sondern auch parteiintern.
Julia Hamburg: Es ist schon immer wieder faszinierend, dass wir uns jetzt tatsächlich mit der konkreten Umsetzung unserer jahrelang entwickelten Konzepte auseinandersetzen. Endlich können wir über das "Wie" reden und müssen nicht mehr über das "Ob" diskutieren. Wir können Niedersachsen nun endlich ökologischer und gerechter gestalten – begrünen im wahrsten Sinne des Wortes.
Was war in den ersten 100 Tagen der größte politische Erfolg der GRÜNEN in der Landesregierung?
Julia Hamburg: Wir haben zum Beispiel das Ende der Diskriminierung der Gründung von Integrierten Gesamtschulen (IGS) auf den Weg gebracht. Ab dem kommenden Schuljahr können sich IGSen auch vier- und in Ausnahmefällen sogar dreizügig gründen. Die neue Landesregierung hat nach einer langen Ära Schünemann (ehemaliger CDU-Innenminister) endlich mehr Menschlichkeit in die Flüchtlingspolitik gebracht, indem zum Beispiel den Kommunen die Freiheit gegeben wird, Asylsuchenden Bargeld statt Wertgutscheine auszuzahlen und die Härtefallkommission umstrukturiert wird. Außerdem hat der Landwirtschaftsminister gemeinsam mit dem Umweltminister die Auflagen für die Haltung von Schweinen in der Massentierhaltung in einem ersten Schritt erhöht. Auch wurde die Abschaffung der Studiengebühren auf den Weg gebracht.
Jan Haude: Wir sind angetreten, um nicht nur die politischen Inhalte zu verändern, sondern auch die Form des Regierens. Mit der Wiedereinführung der Stichwahl, der Reform des Petitionswesens und der Erarbeitung eines Informationsfreiheitsgesetzes hat die rot-grüne Landesregierung auch hierzu erste Impulse gesetzt. Wir Grünen wollen aber mehr, nämlich eine neue politische Kultur in Niedersachsen. Das ist wichtig, damit die Menschen zu AkteurInnen auf Augenhöhe werden, die bei allen wichtigen Entscheidungen mitgenommen und gehört werden. Niedersachsen steht aufgrund des Klimawandels, der demografischen Veränderungen und der schwierigen Haushaltslage vor schwierigen Herausforderungen. Bei der Entwicklung von neuen Lösungen haben wir viel Potential in diesem Land, nämlich acht Millionen EinwohnerInnen.
Wie läuft die Zusammenarbeit in der Koalition, sind sich die beiden Koalitionsparteien immer "grün"?
Jan Haude: Dies ist eine Koalition zwischen zwei eigenständigen Parteien, die in ihrer Programmatik viele Schnittpunkte haben, aber eben auch Unterschiede. Wie es sich bereits im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen angedeutet hat, ist die Verkehrs- und Infrastrukturpolitik ein brisanter Bereich für SPD und Grüne. So haben wir etwa beim Sinn und Nutzen von Autobahnneubauprojekten unterschiedliche Positionen. Trotzdem wird es gelingen, eine gemeinsame rot-grüne Verkehrspolitik zu erarbeiten, die sich an der Einigung, wie wir sie auch im Koalitionsvertrag definiert haben, orientiert: Mehr Verkehr auf die Schiene und eine Stärkung des Öffentlichen Personenverkehrs, Erhalt vor Neubau beim Straßenbau.
Was ist denn Eurer Meinung nach die größte Baustelle für die kommende Zeit?
Julia Hamburg: Unsere größte Baustelle werden die maroden Landesfinanzen sein. Die Bundesländer sind für die Aufgaben, die sie erledigen müssen, chronisch unterfinanziert. Gute Bildung, ein ökologischer Wandel und die Beteiligung aller an der Gesellschaft kosten Geld. Daher ist der politische Wechsel auch im Bund so wichtig, damit Niedersachsen voran kommt.
Jan Haude: Wir brauchen eine gerechte Steuerpolitik im Bund. Nur wenn es gelingt, Vielverdienende und Vermögende stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, wird es im Landeshaushalt die nötigen finanziellen Spielräume geben, um Bildungsgerechtigkeit und Inklusion zu echten Erfolgsprojekten zu machen. Und natürlich sind die Erwartungen an eine neue Regierung nach zehn Jahren Schwarz-Gelb riesig. Aber die großen Probleme des demografischen Wandels, der Bildungsgerechtigkeit und des ökologischen Umbaus sind langfristige Projekte, die wohlbedacht und sorgfältig umgesetzt werden müssen und nicht gleich heute umgesetzt sind und morgen greifen. Da brauchen wir viel Ausdauer.
Julia, Du bist jetzt beides, Landesvorsitzende und Parlamentsneuling: Wie hast Du die ersten 100 Tage in einer Doppelfunktion erlebt?
Julia Hamburg: Regieren macht großen Spaß. Natürlich ist es gerade als Parlamentsneuling auch viel Arbeit, sich in die neuen Strukturen einzuleben. Aber ich erlebe es als großen Gewinn für den Landesvorstand, dass durch die personelle Überschneidung der schnelle Informationsfluss innerhalb einer so großen Fraktion, die regiert, auch zum Großteil beim Landesvorstand direkt ankommt. Hierdurch haben wir eine sehr hohe Handlungsfähigkeit. Auch gerade die Frage, wie stellt sich die Partei auf, wenn sie regiert und wie strukturieren wir die Partei um, damit auch alle an dem Projekt "Regierung" beteiligt werden können, finde ich unglaublich spannend. Das macht mir gerade auch mit am meisten Spaß – mit Kreisvorständen, Landesarbeitsgemeinschaften und Parteirat zu eben diesen Fragen ins Gespräch zu kommen.
10 zentrale Projekte aus den ersten 100 Tagen der rot-grünen Landesregierung