Laut Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Herrn Röhrig ist statistisch davon auszugehen, dass in jeder Schulklasse durchschnittlich zwei Kinder sitzen, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind.
Schule hat somit eine besondere Chance und auch Verantwortung, wenn es um den Schutz von Kinder vor sexuellem Missbrauch geht, denn fast alle Kinder werden mit dem System Schule erreicht.
2016 hat der UBSKM die bundesweite Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ gestartet, der Niedersachsen im August 2018 beigetreten ist.
Der Kultusminister Herr Tonne hat bei der Veranstaltung zum Start in Hannover am 16. August 2018 darauf hingewiesen „Wir wollen die Schulen dabei unterstützen, nicht zum Tatort zu werden, sondern ein Schutzort für Kinder und Jugendliche zu sein, die sexuelle Gewalt erlitten haben, z. B. in der eigenen Familie, durch Gleichaltrige oder auch im Netz durch Cybergrooming, Sexting oder Konfrontation mit Pornografie.
Kernelement einer wirksamen Prävention ist die Erarbeitung eines für die jeweilige Schule passgenauen Schutzkonzeptes, das alle wirksamen Elemente der Abwehr von sexuellen Übergriffen und von Gewalt beinhaltet.“
Wir (Bündnis90/Die Grünen in Niedersachsen) setzen uns dafür ein, dass in den niedersächsischen Schulen Strukturen und Bedingungen geschaffen werden, die wirksame Interventions- und Schutzmaßnahmen ermöglichen.
Niedersachsens Schülerinnen*Schüler brauchen beteiligungsorientierte Präventionskonzepte
Der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes-Wilhelm Röhrig machtezum Start der Initiative am 16. August 2018 deutlich, dass nicht nurdie durchaus wichtigen intervenierenden Schutzmaßnahmen in Krisen oder Akutsituationen zentral sind, sondern im Wesentlichen vor allem präventive Maßnahmen, Schutzkonzepte und Selbstverpflichtungen entwickelt werden müssen.
Prävention umfasst dabei jede Maßnahme, die dazu dient, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verhindern und bereits im Vorfeld zu behindern. Das bedeutet, aber auch, dass Prävention keine Frage einer einzigen Methode, einer einzigen Übung oder eines einzigen Projektes ist. Prävention zum Schutz vor sexualisierter Gewalt muss in Organisationsstrukturen fest verankert und „institutionalisiert“ werden. Keine der aktuellen Maßnahmen und Erlasse des niedersächsischen Kultusministeriums wirken präventiv oder stellen ein aufeinander abgestimmtes Schutzkonzept zum Schutz vor sexualisierter Gewalt dar:
Die Anlaufstelle für Opfer und Fragen sexuellen Missbrauchs und Diskriminierung in Schulen und Tageseinrichtungen für Kinder ist lediglich eine Telefonnummer, eine „Hotline“. Ein Beratungskonzept, dass Qualitätsstandards bezüglich Beratungsmethode und Qualifikation der Berater*innen beschreibt, fehlt. Eine gesetzliche Grundlage und damit qualitative Vorgabe, wie z.B. beim Einsatz von speziell qualifizierten Kinderschutzfachkräften durch die Jugendämter zur Fachberatung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen gemäß § 4 Gesetz zur Kommunikation und Information im Kinderschutz (KKG), die sich auch an Lehrkräfte und andere Berufsgeheimnisträger richtet, gibt es nicht. Auch eine Vernetzung und ein Austausch der Anlaufstelle mit weiteren Akteuren im Kinderschutz wie er in § 3 KKG beschrieben wird, gehört nicht zu den sonst für andere spezialisierte Fachberatungen gehörenden üblichen fachlichen Qualitätsstandards zum Thema sexualisierte Gewalt.
Die Handreichung „Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen in niedersächsischen Schulen“reicht bei weitem nicht aus und enthält nur mangelhafte Hinweise für den Umgang mit sexuellen Übergriffen und die Erarbeitung von entsprechenden Schutzkonzepten. An keiner Stelle in der Handreichung wird auf die mit dem Bundeskinderschutzgesetz eingeführten Grundsätze im Kinderschutz eingegangen: Netzwerkarbeit, Kooperation mit den Trägern der Jugendhilfe und Vereinbarungen zum Kinderschutz zwischen den örtlichen Jugendämtern und den Schulen (§ 8b Abs. 2 SGB VIII, § 3 Abs. 2KKG). Lehrende, pädagogische Fachkräfte an Schulen, betroffene Schüler*innen erhalten damit keinerlei Orientierung und Handlungssicherheit, betroffene Kinder und Jugendliche können nicht angemessen geschützt werden und sind zu allem Überfluss selten an der Entwicklung von sie betreffenden Schutzmaßnahmen beteiligt.
Der Erlass „Sicherheits- und Gewaltpräventionsmaßnahmen in Schulen in Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft“(RdErl. d. MK, d. MI u. d. MJ v 1. 6. 2016) soll die Schulen verpflichten, ein Sicherheits- und Präventionskonzept zu erstellen. Nach dem Start der bundesweiten Initiative „Schule gegen sexualisierte Gewalt“ am 16.08.2018 sollen nun alle niedersächsischen Schulen das Thema „Sexuelle Übergriffe“ explizit darin aufnehmen. Diese Konzepte verdienen höchstens den Titel „Sicherheitskonzepte“, die Absprachen mit der Polizei zu Anzeigeverhalten und Umgang mit der*dem Täter*in enthalten und Opferschutz als Teil des Ermittlungsverfahren beschreiben.
Das Kultusministerium und die Landesschulbehörde präferieren in den niedersächsischen Schulen vor allem Präventionsprojekte mit der Polizei. In „Selbstbehauptungskursen“ lautet die Forderung an die Schüler*innen „Sag einfach laut und deutlich Nein, dann bist du vor allen Übergriffen geschützt“. Dies bürdet Kindern die Verantwortung für ihren Schutz auf.
So sehr es wichtig ist, dass Kinder Methoden lernen, wie sie sich selbst schützen können, weil beschützende Erwachsene nicht immer dabei sein können, führt ein alleiniges Ausrichten auf „Selbstbehauptungskurse“, wie es aktuell in den niedersächsischen Schulen angeboten wird, dazu, dass zum „Opfer“ gewordene erhebliche Schuld tragen müssen: sie haben trotz besserem Wissen und Verhaltenstraining keine angemessenen Grenzen setzen können. Dabei ist in allen Fällen der*die Täter*Täterin für einen sexuellen Übergriff verantwortlich, weil es in den meisten Fällen um Machtmissbrauch gegenüber Schwächeren geht.
So sinnvoll der Gedanke der Stärkung von Kindern ist und so wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche selbstbewusst sein dürfen – so kritisch muss Präventionsarbeit, die ausschließlich Kinder und Jugendliche bearbeitet, betrachtet werden. Häufig entbindet sie (professionelle) Bezugspersonen aus der Verantwortung und bürdet Minderjährigen die hauptsächliche Verantwortung für ihren eigenen Schutz auf.
Deshalb müssen sich Präventionsmaßnahmen in erster Linie an Erwachsene als potenziell Verantwortliche, an Institutionen mit ihren Strukturen und Konzepten, und dann erst an Kinder und Jugendliche, insbesondere im Rahmen von Beteiligung und Partizipation, richten.
Der Unabhängigen Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes-Wilhelm Rörig fordert alle Länder auf, folgende wichtigen Elemente eines jeden Präventionskonzeptes zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in Schulen zu entwickeln: Leitbild, Interventionsplan, Kooperationen, Personalverantwortung, Fortbildung“, Verhaltenskodex, Partizipation, Präventionsangebote, Ansprechstellen und Beschwerdestrukturen. Niedersachsen hat sich mit der Beteiligung an der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ verpflichtet, alle niedersächsischen Schulen bei der Entwicklung von präventiven Schutzkonzepten zu unterstützen.
Deshalb fordern wir:
- Schulen haben gemäß § 8b Abs. 2 SGB VIII einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Entwicklung von Schutzkonzepten. Dieser Beratungsanspruch richtet sich an das Landesjugendamt als überörtlicher Träger der Jugendhilfe.
Das Landesjugendamt und die Landesschulbehörde entwickeln vor diesem gesetzlichen Hintergrund unter Federführung des Landesjugendamtes ein Beratungs- und Organisationsentwicklungskonzept zur Entwicklung von Schutzkonzepten zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, die insbesondere die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sicherstellen. Einzubeziehen und zu sensibilisieren sind alle an den Schulen tätigen Personen wie z.B. Schulsozialarbeiter*innen und pädagogische Fachkräfte, Schulhausmeister*innen. - Gemäß § 3 Abs. 2 KKG sollen die kommunalen Jugendämter als örtliche Träger der Jugendhilfe Vereinbarungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen mit Schulen abschließen. Die örtlichen Träger der Jugendhilfe sollen bei der Entwicklung der Schutzkonzepte in den betroffenen Schulen beteiligt werden. Die Schulen sollen entsprechende Vereinbarungen, die in der Regel Bestandteil von Handlungsplänen sind, mit den betroffenen örtlichen Trägern der Jugendhilfe abschließen.
- Im Rahmen der Rahmenvereinbarung[1]zur Betreuung in Ganztagsschulen, die mit der Jugendhilfe kooperieren, sind die Träger der Jugendhilfe in der Regel zur Einhaltung von Kinderschutzstandards über eine Rahmenvereinbarung[2]zum Kinderschutz gemäß §§ 8a und 72a SGB VIII verpflichtet. Diese Ressourcen sollen im Rahmen der Entwicklung der Schutzkonzepte einbezogen und genutzt werden. Dazu sind bei der Entwicklung der Schutzkonzepte – analog zur Rahmenvereinbarung zum Kinderschutz – Absprachen zu treffen
–zur Vorlage der erweiterten Führungszeugnisse gemäß § 72a SGB VIII für Alle in der Schule Tätigen (Haupt- und Ehrenamtliche, Honorarkräfte, etc.) und
–zum Einsatz die insoweit erfahrenen Fachkräfte gemäß § 8a Abs. 4 SGB VIII, die die kooperierenden Träger der Jugendhilfe innerhalb ihrer Organisationen zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung einsetzen müssen.
- Den Schulen müssen sowohl zeitliche (Lehrerstunden) als auch finanzielle Ressourcen für Fortbildung und für die Erarbeitung von Schutzkonzepten zur Verfügung gestellt werden.
- Die Mitarbeiter*innen spezialisierter Fachberatungsstellen sind neben den Mitarbeiter*innen der örtliche Jugendämter Ansprechpartner*innen für die Beratung von Lehrer*innen – sowohl in Fragen von Intervention zum Schutz wie auch für Fragen zur Prävention und bei der Entwicklung und Umsetzung von Schutzkonzepten. Dafür benötigen die spezialisierten Fachberatungsstellen eine auskömmliche Finanzierung, um hierfür Ressourcen zur Verfügung zu haben.
[1]Rahmenvereinbarung zwischen dem Land Niedersachsen und den Städten Braunschweig, Göttingen, Hannover, Oldenburg, Osnabrück und Wolfsburg zur Zusammenarbeit in Ganztagsgrundschulen
[2]Rahmenvereinbarungen zur Sicherstellung des Schutzauftrages gemäß § 8a SGB VIII sowie zur Sicherstellung des Tätigkeitsausschlusses einschlägig vorbestrafter Personen gemäß § 72 a SGB VIII