Wolfgang Vogelsänger ist seit 2002 Leiter der Integrierten Gesamtschule Göttingen. Die IGS Göttingen ist eine von zwei Schulen in Niedersachsen, die an der Werkstatt schulentwicklung.digital zum Thema Digitalisierung und Schule teilnehmen. Das Projekt wurde vom Forum Bildung Digitalisierung ins Leben gerufen, einer Initiative von unter anderem der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung. Wir haben mit Wolfgang Vogelsänger über den Umgang mit Digitalisierung an seiner Schule gesprochen.
GZ: Die IGS Göttingen setzt auf den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht. Doch Digitalisierung an der IGS Göttingen geht über das bloße Bereitstellen von digitalen Medien und Technologien hinaus: Wie kann man sich das vorstellen? Was genau passiert an der IGS Göttingen in diesem Bereich?
Wolfgang Vogelsänger: Die IGS Göttingen hat ein ganz spezielles und 2011 durch den Deutschen Schulpreis prämiertes Lern- und Lebenskonzept, das wir nun seit über 40 Jahren erfolgreich praktizieren. Das heißt, dass wir die Tablets in ein bestehendes Lernkonzept eingebracht haben und nicht das Lernen von der Technik abhängig machen. Unser Lernen in heterogenen und inklusiven Settings, unseren Geschlechts- und leistungsheterogenen Tischgruppen. Diese jeweils sechs Kinder bilden Teams, die an komplexen Aufgaben gemeinsam arbeiten und dabei ihre jeweiligen Stärken und Schwächen einbringen. Die iPads fügen sich genau in dieses Lernkonzept ein, bieten viel mehr Möglichkeiten und Individualisierungen beim Lernen und Arbeiten. Wir als Lehrpersonen können viel offenere Arbeitsaufträge stellen, die Kinder arbeiten selbstständiger und kreativer mit all den phantastischen Möglichkeiten, die das iPad bietet. Auf Knopfdruck stehen jedem Kind Textverarbeitung, Präsentationstechniken, Foto, Video, Mindmap, Vokabelprogramme, Taschenrechner, Wörterbücher, Atlanten, Internet und vieles mehr zur Verfügung. Die von ihnen erarbeiteten Ergebnisse werden auf dem schuleigenen Server gespeichert, an den sie auch von außen kommen.
Immer wieder gibt es Kritik daran, dass Kinder frühzeitig mit digitalen Medien ausgestattet werden. Gab es diese Kritik auch an Ihrer Schule? Falls ja, wie sind Sie damit umgegangen?
Ja, diese Kritik gab es, daher haben wir zunächst auch erst im 8. Jahrgang mit der iPad-Arbeit begonnen. Ab dieser Jahrgangsstufe ist zum Beispiel eine schlechte Handschrift auch nicht mehr zu retten. Wir argumentieren damit, dass wir als Schule eine Verantwortung dafür haben, dass alle unsere Kinder eine hohe Medienkompetenz erwerben und vorbereitet sind auf die Arbeitswelt, in denen der Umgang mit digitalen Medien vorausgesetzt ist. Für uns ist ein ganz wichtiger Punkt, dass sie das iPad als nützliches Werkzeug erleben und dass sie Sicherheit im Umgang mit diesen Medien erwerben, sich nicht übers Ohr hauen lassen, Nachrichten überprüfen, die Zuverlässigkeit von Quellen einschätzen können und Aspekte der Sicherheit im Netz selbstverständlich leben. Wo sonst als in der Schule sollen unsere Kinder das lernen. Eltern sind da oft überfordert. Wichtig ist aber, dass die Arbeit mit den iPads nur eine Form der Aneignung von Kompetenzen ist, neben Musik, Kunst, Werken, Zirkus, Theater, Literatur, Film und all den anderen Dingen, die das menschliche Leben so facettenreich und lebenswert machen.
Breitbandausbau ist derzeit das prominenteste Projekt, wenn es um Digitalisierung geht – auch an Schulen. Was sind Ihrer Meinung nach weitere Dinge, die die Politik angehen muss, um Digitalisierung an Schulen weiter sinnvoll voranzutreiben?
Von politischer Seite sind wir bislang noch null unterstützt worden. Wir haben uns selbst das Konzept erarbeitet, aus unserem Budget die technische Infrastruktur angeschafft, mit WLAN, Flachbildschirmen und Apple-TV in jeder Klasse und all die Apps, die die Kinder für ihre Arbeit benötigen. Die Eltern müssen die iPads anschaffen (derzeit sind in unserer Schule etwa 800 Geräte im Einsatz), nicht einmal die Sozialhilfe übernimmt die Kosten für bedürftige Familien, da ihrer Meinung nach iPads kein Lernmittel sind. Politik und Verwaltung behindern eher die Arbeit. So ist zum Beispiel noch nicht einmal geklärt, ob iPads in zentralen Prüfungen genutzt werden dürfen. Das fordern wir seit über vier Jahren ein, nichts passiert, wir machen einfach. Politik kommt uns auch im Bereich Datenschutz nicht entgegen. Hohe Hürden werden aufgestellt, wir erhalten aber keine Hilfe, wie wir diese überwinden können. Wir brauchen natürlich ein schnelles Netz, eine sichere Cloud (möglichst professionell und bundesweit und nicht in jedem Bundesland handgestrickt), Programme, die kollaboratives Lernen ermöglichen und dem Datenschutz genügen (wir sind gerade dabei, ein solches Programm auf eigene Kosten programmieren zu lassen), eine praxisorientierte Regelung von Urheberrechten. Wir arbeiten hervorragend mit unserem Konzept, jedoch nicht Dank politischer oder verwaltungsmäßiger Unterstützung, sondern trotz ihr und gegen sie. Typisch ist, dass sich Politik bei der Preisverleihung im Rahmen der didacta zum digitalen Lernen ausschließlich selbst dargestellt hat. Wir und die anderen beiden Preisträger sind nicht zu einem einzigen Wort gekommen, waren nur Staffage. Ich warte immer noch auf den Tag, an dem Politik einmal die fragt, die von sich aus und meist gegen das System zu guten Lösungen gekommen sind. So wie es etwa die Bosch-Stiftung macht mit ihrer Aktion des Deutschen Schulpreises.
Die IGS Göttingen ist online zu finden unter: igs-goe.de